Wie haben Sie die vereinbarte Waffenruhe zwischen Israel und der Hisbollah aufgenommen?
Erich Gysling: Mit Erleichterung. Sie ist ein Hoffnungsschimmer. Aber Waffenruhe ist nicht Waffenstillstand. Die Kampfhandlungen ruhen vorerst nur für 60 Tage.
Was sind die Gründe für die Waffenruhe?
Beide Seiten sind ein Stück weit von ihren Maximalforderungen abgerückt. Die Hisbollah hat eingewilligt, obwohl sie eine Waffenruhe im Südlibanon immer an die Forderung geknüpft hat, dass die Waffen auch im Gaza-Streifen ruhen. Israel wiederum verzichtet zumindest im Moment darauf, die Hisbollah weitgehend zu vernichten. Premierminister Benjamin Netanjahu hat selbst gesagt, dass die Waffen dazu fehlen. Zudem müssen sich auch seine Streifkräfte erholen.
Die libanesische Armee soll dafür sorgen, dass die Hisbollah die Vereinbarung einhält. Ist sie dazu in der Lage?
Die libanesische Armee ist schwach. Ob sie die Kontrolle im Südlibanon bis zur israelischen Grenze übernehmen kann, ist fraglich. Ich bin positiv skeptisch.
Israel gibt an, es dürfe bei Verstössen gegen die Waffenruhe sofort wieder angreifen. Die Hisbollah dementiert eine solche Vereinbarung. Wie ist das zu werten?
Daraus kann man schliessen, dass die Hisbollah diese Waffenruhe als einen Sieg bezeichnen möchte, in welchem die eigenen Bedingungen erfüllt wurden. Das machen andere radikale Gruppen im Nahen Osten genauso. Auch der Iran hat bereits gesagt, diese Waffenruhe sei ein grosser Erfolg des Widerstands gegen Israel. Das ist sie natürlich nicht. Sie ist die Folge der Einsicht beider Seiten, dass man mit Maximalforderungen nicht weiterkommt.
Wie stark ist die Hisbollah noch?
Das ist schwierig zu sagen. Sicher ist, dass die Hisbollah in den vergangenen Monaten massiv an Kämpfern und Material eingebüsst hat. Allerdings hiess es bereits nach dem Tod von Hassan Nasrallah, die Hisbollah stünde ohne Führung da und sei nicht mehr in der Lage, Angriffe durchzuführen. Die zahlreichen Raketenangriffe der Hisbollah auf Israel in den vergangenen Tagen vor der Waffenruhe haben jedoch gezeigt, dass sie weiterhin eine relativ starke Kraft bleibt.
Israel hat die Befürchtung geäussert, dass die Hisbollah trotz Waffenruhe aufrüstet. Darf sie das?
Das, was man vom Text der Vereinbarung kennt, zeigt, dass Israel darauf beharrt, dass die Hisbollah nicht aufrüsten oder Waffen ins Land schmuggeln darf. Ob die Hisbollah dies anerkannt hat, ist unklar. Was man jedoch weiss: Israel hat in den vergangenen Tagen mehrere Grenzübergänge vom Libanon nach Syrien bombardiert, um die Waffenlieferungen auf diesem Wege zu blockieren. Ob eine mögliche Aufrüstung der Hisbollah aber ganzheitlich zu verhindern ist, wird sich zeigen.
Durch die Waffenruhe mit der Hisbollah hat Israel nun wieder mehr Kapazitäten für den Kampf gegen die Hamas in Gaza. Was für eine Entwicklung erwarten Sie?
Israel hat zumindest Vorbereitungen getroffen: Satellitenbilder zeigen, dass Israel für militärische Zwecke nutzbare Strassen in den Gazastreifen baut. Es kann also sein, dass Benjamin Netanjahu dort langanhaltende militärische Präsenz markieren will. Die Hamas wiederum zeigt sich grundsätzlich bereit für ein Ende der Kampfhandlungen und auch für die Freilassung der noch rund 100 gefangengehaltenen Geiseln. Allerdings nur, wenn sich Israel permanent aus dem Gazastreifen zurückzieht. Dies wiederum kommt für Israel nicht infrage. Die Situation bleibt blockiert.
Worum geht es Premierminister Benjamin Netanjahu? Ausschliesslich um die Befreiung der israelischen Geiseln?
Nun ja, sein eigentliches Ziel ist die komplette Vernichtung der Hamas. Dies dürfte mit militärischen Mitteln jedoch nicht möglich sein. Die Hamas wird als terroristisch gesinnte Widerstandskraft bestehen bleiben, auch aufgrund der zahlreichen Opfer, die auf palästinensischer Seite zu verzeichnen sind. Vielleicht heisst die Organisation eines Tages nicht mehr Hamas, aber die Ideologie bleibt bestehen. Der Konflikt zwischen Israel und der Hamas wird sich so rasch nicht beruhigen.
Gemäss Expertenmeinungen kann sich Netanjahu gar nicht aus Gaza zurückziehen, weil er sonst die Rückendeckung in seiner Regierung verliert. Teilen Sie diese Einschätzung?
Absolut. Rechtsextreme Minister seines Kabinetts wie Itamar Ben-Gvir oder Bezalel Smotrich betonen immer wieder, dass Israel in Bezug auf die Hamas keine Kompromisse eingehen darf. Sollte Netanjahu sich aus Gaza zurückziehen, würden sie die Regierung mit ihren Splitterparteien verlassen, dann wäre sie gescheitert. Der Druck, den diese Politiker auf Netanjahu ausüben, ist riesig.
Ich finde es nicht angemessen, dass das internationale Recht nur bemüht wird, um zu behaupten, Israel halte sich an die Resolutionen der UNO, was bekanntlich nicht den Tatsachen entspricht, aber sonst generell überhaupt keine Rolle spielt, wenn man die Expertinnen befragt. Immer nur, was Armee X kann oder Miliz Y, immer, nur.
Die UNO muss eine Hauptrolle spielen!