Die Situation in Nordsyrien ist
unübersichtlich. Bereits über einen Monat dauert die Offensive der Türkei auf die kurdische Enklave Afrin an. Wie ist die aktuelle Situation vor Ort?
Ismail Küpeli: Die Türken sagen,
sie hätten über 2000 kurdische YPG-Kämpfer getötet, die YPG sagt,
sie töte jeden Tag 30 bis 40 türkische Soldaten. Beide Darstellungen
können so kaum stimmen. Wirklich neutrale Stimmen gibt es nicht.
Aussenstehende Quellen sagen, dass die türkische Armee bereits viele
Dörfer in Grenzgebieten erobert hat, jedoch beim Vormarsch in die
grösseren Städte nicht vorwärts kommt. Mit Sicherheit sagen kann
man: Es handelt sich kaum um einem schnellen militärischen Erfolg von
Seiten der Türkei.
Die türkische Armee marschiert in
ein anderes Land ein und nimmt in Kauf, dass Zivilisten sterben.
Warum ist der Türkei die Offensive in Nordsyrien so wichtig?
Die syrischen Kurden sind eng mit der
türkischen PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans, verbandelt. Das ist
eine Tatsache, die man nicht wegreden kann. Sie haben gemeinsame
Wurzeln und es gibt gemeinsame ideologische Bezüge. Für die Türkei
ist die PKK der Feind Nummer eins. Insofern ist es für sie nicht
akzeptabel, dass in Nordsyrien ein Gebiet entsteht, das von solchen
Kräften kontrolliert wird. In Rojava, so heisst das kurdische
Projekt, sehen die Türken eine Gefahr für die eigene
Machterhaltung.
Rojava gibt es jedoch nicht erst
seit gestern. Warum hat die Türkei die Kurden in Nordsyrien bisher
geduldet?
Die Pläne für eine Offensive in
Nordsyrien sind nicht neu. Die Türkei hegt seit mehreren Jahren den
Plan, die Gebiete in Rojava zu besetzen und eine Pufferzone
einzurichten. Doch bisher war es so, dass die Türkei deshalb nicht
in Nordsyrien einmarschiert ist, weil die USA darauf gepocht haben,
dass sie die kurdischen Kämpfer für den Anti-«IS»-Kampf brauchen.
Jetzt scheint dieses Veto weggefallen zu sein.
Weil der «IS» besiegt ist?
Vollständig besiegt ist der «IS» noch
nicht. Und mit der türkischen Offensive in Afrin wird nun sogar
befürchtet, dass
der «IS» zurückkommen könnte. Denn
mit der Verlagerung der kurdischen Kämpfer, die derzeit mit der
Verteidigung von Afrin beschäftigt sind, schwächen die Türken den
Anti-«IS»-Kampf, der kurz vor dem Abschluss stand.
Warum also interveniert die USA
nicht?
Weil sie es sich mit der Türkei nicht
verscherzen will. Die Kooperation zwischen der YPG und den USA ist
rein militärisch und basiert allein auf dem Anti-«IS»-Kampf.
Die USA unterstützen die
politischen Vorhaben der Kurden nicht?
Nein, es gibt keine politische
Kooperation. Klar, der Gedanke ist naheliegend, dass die USA eine
Region unterstützt, die nach den Prinzipien der Demokratie,
Menschenrechte und Frauenemanzipation aufgebaut ist. In Rojava ist
dies jedoch nicht der Fall. Es geht nur um den Anti-«IS»-Kampf. Die
US-Stellen betonen auch immer wieder, dass sie sich nicht in die
Angelegenheit mit Afrin einmischen wollen, da es dort nicht um einen
Kampf gegen den «IS» geht. Doch in Wahrheit würde es die Offensive in
Afrin nicht geben, wenn es die beiden Grossmächte USA und Russland
nicht zulassen würden.
Inwiefern lässt Russland die
Offensive zu?
Bis noch vor einem Monat waren in Afrin
russische Truppen stationiert, welche die Türkei an einer Offensive
zu hindern sollten. Einen Tag bevor die Türkei in Nordsyrien
eindrang, wurden diese Truppen abgezogen. Das war das Startsignal für
Erdogan. Auch könnte Russland den Luftraum für die türkischen
Kampfflugzeuge schliessen, wenn es wollte. Inoffiziell hat Russland
also grünes Licht für die türkischen Bombardements gegeben. Würden
sie dies nicht wollen, wäre alles von heute auf morgen vorbei.
Warum also toleriert Russland die
türkische Offensive?
Weil es die syrischen Kurden so weit
unter Druck zu setzen will, bis sie sich dem Assad-Regime
unterordnen.
Was nun mit der Kooperation zwischen
YPG-Kämpfern und syrischen Milizen ein Stück weit passiert ist.
Ja, das führte tatsächlich zu einem
Näherkommen zwischen den Kurden und dem Assad-Regime.
Wie ist Ihre Einschätzung zu dieser
Kooperation? Die Kurden kämpfen nun Seite an Seite mit jenen
Kräften, die im Südosten des Landes seit Wochen die Bevölkerung in
Ost-Ghouta terrorisieren.
Natürlich kostet die Kurden eine
Kooperation mit dem Regime Sympathiepunkte. Auch wenn bisher noch
immer syrische Milizen in Afrin kämpfen und nicht Truppen der
syrischen Armee. Trotzdem ist diese Zusammenarbeit moralisch
fragwürdig und politisch sehr heikel. Es birgt die Gefahr, dass das
Assad-Regime weiter an Legitimität und an Ansehen gewinnt. Das ist
nicht gut, denn es bombardiert Zivilisten und ist für
Hunderttausende Tote verantwortlich.
Warum also setzen die Kurden auf die
Hilfe dieser syrischen Milizen?
Wenn man schaut, auf wen Afrin noch
zählen kann, sind die Optionen relativ mager. Der Westen hält sich
raus, Russland hat die Offensive möglich gemacht. Es gibt keine
andere Kraft, auf welche die Kurden setzen können, um kurzfristig
überhaupt überleben zu können. Natürlich wäre eine Unterordnung
unter Assad politisch fatal. Es würde bedeuten, dass alles, was
erreicht wurde an politischen Erfolgen, die Basisdemokratie, der
Pluralismus, die Frauenemanzipation, unter Assad gefährdet wäre.
Insofern bin ich absolut gegen diese Kooperation, aber ich sehe nicht
sehr viele andere Wege.
Was ist mit der internationalen
Gemeinschaft?
Leider sieht es wie so oft danach aus,
dass wenn der Westen zwischen einem diktatorischen Regime im Nahen
Osten und den Kurden entscheiden muss, sich gegen die Kurden
entscheidet. Aus kurdischer Sicht ist das eine Wiederholung dessen,
was im Irak passiert ist mit Saddam Hussein. (Anm. d. Red.: Der
Westen hat Saddam Hussein lange stillschweigend geduldet, nachdem
sich dieser an die Macht geputscht hatte.) Dies, obwohl eigentlich
klar sein müsste, wer die treibende Kraft im Anti-«IS» Kampf war, wer
dafür verantwortlich ist, dass in Raqqa nicht mehr täglich Leute
hingerichtet und gefoltert werden. Aber all das scheint jetzt für
die internationale Gemeinschaft keine Rolle mehr zu spielen.
Schliesslich ist die Türkei nach wie vor ein zentraler Partner des
Westens.
Aber gerade bei dem «IS»-Angriff auf
Kobane haben sich viele mit den Kurden solidarisiert. Warum jetzt
nicht mehr?
Weil die kurdischen Kräfte so
erfolgreich waren und den «IS» besiegt haben. Damit war diese grosse
Gefahr gebannt. Damals haben sich alle Medien mit dem «IS» beschäftigt,
es gab eine grosse Angst, dass er weiteres Gebiet unter seine
Kontrolle bringt. Jetzt ist das Machtzentrum des «IS» auf ein
Restgebiet an der syrisch-irakischen Grenze zusammengeschrumpft, alle
wichtigen Städte sind befreit. Sowohl für die westliche
Öffentlichkeit aber auch für die USA besteht keinen Grund mehr,
weiter auf die kurdischen Kräfte zu setzen. Man braucht sie schlicht
nicht mehr.
Hat Erdogan einen Plan definiert,
sollte seine Offensive in Nordsyrien erfolgreich sein?
Östlich von Afrin gibt es bereits ein
Gebiet, das von der türkischen und von der Freien Syrischen Armee
kontrolliert wird. Dort wird eine politische Verwaltung aufgebaut,
die regieren soll. Für Afrin gibt es offizielle Pläne, dass man die
syrischen Geflüchteten in der Türkei dorthin umsiedeln will. Das
sind bis zu 400'000 Menschen. Die Frage ist aber, was dann mit der
Bevölkerung passiert, die jetzt in Afrin lebt? Das sind rund 300'000
zumeist kurdische Personen plus nochmals etwa gleich viele
Geflüchtete aus Syrien. Sollen die vertrieben werden? Das käme
einem Austausch von Flüchtlingen gleich.
Gibt es für die Kurden überhaupt
noch eine Perspektive?
Nur wenn die Offensive auf Afrin
stoppt. Der Westen hätte durchaus die Mittel, um Erdogan zu diesem
Punkt zu bringen. Danach bräuchte es einen neuen Friedensprozess in
der Türkei. Denn ohne einer Lösung der Kurdenfrage in der Türkei,
wird es auch in Rojava keinen Frieden geben.
Wie wahrscheinlich ist eine solche Lösung?
Man müsste es irgendwie schaffen, dass
der Westen den Frieden in der Region als gewinnbringend sieht. Ich
glaube, es wäre für Europa durchaus wünschenswert, würde im Nahen
Osten ein Gebilde entstehen, an das man sich halten kann, wo jene
Werte am Leben gehalten werden, die uns hier so wichtig sind.