Nach dem Terrorangriff der radikalislamischen Hamas am 7. Oktober hat die israelische Armee am Wochenende ihre Bodenangriffe gegen die Terroristen ausgeweitet. In den vergangenen Wochen hatte die Luftwaffe der Israelis vermehrt Stellungen der Terroristen bombardiert. Rauchsäulen türmen sich am Himmel über Gaza-Stadt, Häuser brechen in sich zusammen, Menschen versuchen, ihre Angehörigen unter den Trümmern zu finden.
Darüber, ob die israelische Armee zu einer grossangelegten Bodenoffensive auf den Gazastreifen übergeht, wurde in den letzten Wochen viel spekuliert. In der Nacht zum Samstag verkündeten die Streitkräfte, dass sie ihre Bodeneinsätze intensivieren würden. Regierungschef Benjamin Netanjahu sprach am davon, dass «die zweite Etappe des Krieges» begonnen habe. «Dies ist unser zweiter Unabhängigkeitskrieg, der Krieg der Menschlichkeit gegen das Böse», sagte er.
In dieser Phase des Krieges bleiben Bodentruppen aus Israel erstmals länger im Gazastreifen. Zuvor hat die Armee immer wieder gezielte Aktionen in dem Gebiet durchgeführt, hatte sich anschliessend aber immer wieder auf israelisches Territorium zurückgezogen.
De facto hat damit die Bodenoffensive begonnen. Dabei rückt Israel nicht überfallartig aus allen Richtungen in den Gazastreifen vor, sondern durchkämmt das von Norden aus Stück für Stück. Bisher ist die Informationslage über die bisherige Grösse der Bodenaktionen schwierig. Nach Angaben der israelischen Armee sollen von Freitag auf Samstag bereits rund 150 Tunnel und Bunker der Hamas angegriffen worden sein. Die Offensivaktionen am Boden würden von Infanterie, Ingenieur-Korps und Artillerie durchgeführt werden, hiess es weiter.
Explaining our first mechanized raid into Gaza and the security situation in the north, while antisemitism on US campuses and American cities is on the rise. With @greta on @NEWSMAX pic.twitter.com/zHVHewBdyr
— Jonathan Conricus (@jconricus) October 27, 2023
Vor dem Hintergrund der humanitären Situation im Gazastreifen hatten die USA laut Medienberichten mehrfach auf eine Verschiebung der Bodenoffensive gepocht. Der Aufschub solle die Gespräche über die Freilassung von Geiseln ermöglichen.
Im Gazastreifen wird die humanitäre Situation immer dramatischer. Die Hamas befeuert das Leid der Menschen, indem sie ihre Stellungen in zivilen Einrichtungen, Moscheen oder Schulen errichtet. Stellungen, die die Islamisten in den vergangenen Tagen weiter verstärken konnten.
Der jetzt ausgeweiteten Angriffe sind für Israel eine heikle Mission. Die Soldaten müssen sich auf blutige Häuserkämpfe einstellen. Die Hamas-Terroristen konnten sich jahrelang auf den Angriff Israels vorbereiten. Anders als Israels Soldaten kennen sie sich bestens aus im engen Strassengewirr von Gaza-Stadt – und können die Armee durch ein Tunnelsystem nicht nur von oben und der Seite, sondern auch von unten angreifen.
Erschwert wird dieser militärische Albtraum durch das politische Dilemma, in dem die Israelis jetzt stecken: In den kommenden Tagen dürften grauenvolle Bilder aus dem Gazastreifen nach aussen dringen, nicht zuletzt, weil die Hamas Zivilisten als lebendige Schutzschilde nutzt.
Der internationale Druck auf Israel, zivile Opfer zu vermeiden, wird noch einmal wachsen. Deshalb wollte die israelische Führung Zivilisten die Möglichkeit geben, aus dem Kampfgebiet zu fliehen. Die Hamas schien dagegen diese Flucht verhindern oder zumindest verlangsamen zu wollen.
Erschwerend zu kommt hinzu, dass immer noch mehr als 200 Geiseln in der Gewalt der Hamas sind. Israel könnte noch darauf gehofft haben, die Menschen befreien zu können, die die Hamas nach Gaza verschleppt hat. Die Befürchtung bei den nun ausgeweiteten Offensivaktionen: Die Terroristen könnten auch die Entführten im Kampf einsetzen, ähnlich, wie sie andere Zivilisten als Schutzschilde nutzen.
Israel hat in der Vergangenheit vieles unternommen, um Geiseln zu befreien. Durch die Ausweitung des Bodenangriffs wird die Befreiung der verschleppten Menschen deutlich unwahrscheinlicher. Zuletzt waren zwei Frauen von der Hamas freigelassen worden. Eine der ehemaligen Geiseln sagte nach ihrer Freilassung: «Ich bin durch die Hölle gegangen».
Die Gefahr für die Geiseln könnte ein Grund sein, warum die Bodenangriffe verschoben wurde. Andererseits stellt eine Offensive auch die hochgerüstete israelische Armee vor immense Herausforderungen. «Es wird zivile Opfer geben und es wird eine Herausforderung für Israel werden, dies zu kommunizieren», sagt Christian Mölling, Militärexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), t-online. «Die Bodenoffensive gegen die Hamas ist kein Vergeltungsschlag, sondern Israel möchte künftigen Angriffen vorbeugen.»
Das ist der Grund, warum die israelische Führung jetzt vermehrt in den Gazastreifen einrückt. Vor dem Terrorangriff der Hamas war Israel davor zurückgeschreckt, denn Häuserkämpfe in den engen Strassen sind ein Szenario, welches die israelische Armee eigentlich vermeiden wollte.
Der Gazastreifen ist mit seinen 2,2 Millionen Bewohnern eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt. Enge Gassen, begehbare Dächer, die Gebäude haben kleine Fenster: ein Albtraum für jeden Angreifer.
Hinzu kommt: Die Terroristen werden die israelische Armee in einen Guerillakampf zwingen. Die Hamas hat keine Uniformen, die Männer sind nur schwer von Zivilisten zu unterscheiden. Legt einer der Männer sein Gewehr ab, ist er nicht mehr als Terrorist erkennbar. Die Hamas kann also untertauchen, hat unter dem Gazastreifen ein weit verzweigtes Tunnelsystem. Ausserdem hat die Terrororganisation seit 2007 die Kontrolle über den Gazastreifen. Sie wird von grossen Teilen der Bevölkerung unterstützt, weil die strukturellen Bindungen mittlerweile sehr tief verwurzelt sind.
Hinterhalte, Minen, Sprengfallen. Auch Panzerabwehrlenkwaffen des russischen Typs Kornet könnten zur tödlichen Gefahr für das israelische Militär werden. Mit all dem werden es die Israelis zu tun bekommen – sie werden schwere Verluste in Kauf nehmen müssen.
Bei ihrem Angriff auf den Gazastreifen im Jahr 2014 erlitt die israelische Armee erhebliche Verluste, obwohl sie nur wenige Kilometer vorrückte. So starben bei einem kurzen Gefecht in Shujaya, einem Vorort von Gaza-Stadt, 13 israelische Militärangehörige durch einen Hinterhalt. In der Vergangenheit schienen die Terroristen die israelische Armee immer in urbanes Gebiet locken zu wollen. Dort ist der Angreifer im Nachteil – trotz Luftüberlegenheit.
Beide Seiten bereiten sich schon viele Jahre auf dieses Szenario vor. Die Hamas hat Guerillataktiken in Gaza trainiert, wurde mutmasslich vom Iran bewaffnet. Auch die israelische Armee trainierte auf einem Gebiet von 24 Hektar für den Ernstfall. Auf der Armeebasis Tzeelim hat sie für Trainingszwecke eine arabische Stadt samt Markplatz, Minaretten, Tunneln und engen Gassen nachgebaut.
Das ist die perfide Taktik der Hamas: Sie hat den Krieg begonnen, aber wenn nun auch in Gaza Zivilisten sterben, hoffen die Islamisten auf eine Täter-Opfer-Umkehr. Darin sehen Experten die nächste Herausforderung für Israel. Der Druck auf die israelische Führung wird mit dem Leid der Menschen in Gaza wahrscheinlich auch international zunehmen.
Es würde für Israel auch dann noch gefährlicher, sollte dem Land ein Mehrfrontenkrieg drohen. «Die israelische Armee ist der Hamas militärisch überlegen. Aber die libanesische Hisbollah könnte zur Herausforderung werden, denn Israel bereitet sich aktuell nicht auf Kämpfe an zwei Fronten vor», erklärt Militärexperte Mölling t-online. Für diesen Ernstfall stünde allerdings auch ein Flottenverband samt Flugzeugträger der US-Amerikaner bereit, um im östlichen Mittelmeer einzugreifen. Damit will die US-Führung alle Gruppierungen der Region davor warnen, sich einzumischen.
Doch die Gefahr eines Flächenbrandes ist in jedem Fall real.
Die israelische Armee befindet sich demnach in einem brandgefährlichen Einsatz, und es ist unklar, was am Ende das Ziel der israelischen Führung sein wird. «Nach diesem Krieg wird der Nahe Osten nicht mehr so sein, wie er einmal war», sagt Mölling. «Die Frage ist, ob Israel den Gazastreifen dauerhaft besetzen will oder nicht.» Wie weit Israel bei der Ausweitung seiner Bodenaktionen gehen wird, bleibt abzuwarten.
(lak/t-online)
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