In den frühen Morgenstunden des jüdischen Feiertags Simchat Tora am 7. Oktober startet die Hamas einen Terrorangriff auf Israel, der zu einem der tödlichsten Angriffe auf Juden seit Jahrzehnten werden sollte. Allein im Laufe der ersten Stunden feuern sie 3000 Raketen ab, dringen aus dem Gazastreifen in Israel ein und verüben brutale Massaker. Am «Supernova»-Festival ermorden sie hunderte junge Menschen – wer zu flüchten versucht, wird erschossen.
Insgesamt sterben an diesem Tag über 1200 Menschen, mehr als 240 werden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Tausende Israelis, die nahe der Grenze wohnen, verlassen ihre Häuser fluchtartig. Viele meinen, sie würden nur ein paar Tage wegbleiben müssen – wie bei früheren Kämpfen zwischen Israel und der Hamas. Doch tags darauf erklärt Israel den Kriegszustand und marschiert später in den Gazastreifen ein. In den kommenden Wochen müssen mehr als 200'000 Israelis in andere Teile des Landes flüchten.
Auf der anderen Seite – im Gazastreifen – beginnt mit dem Vergeltungsangriff Israels ein Jahr des Grauens und der Verwüstung, das fast sämtliche Bewohner der Region zu Obdachlosen und Geflüchteten machen wird. Groben Schätzungen zufolge sollen in den ersten fünf Tagen 40'000 Menschen geflüchtet sein. Am 12. Oktober fordert Israel alle Bewohner des Nordteils mit Flugblättern und SMS dazu auf, innerhalb von 24 Stunden nach Süden zu flüchten. Die UNO warnt daraufhin, innerhalb so kurzer Zeit sei das nahezu unmöglich. Im Norden, wo sich die Stadt Gaza befindet, lebte vor dem Krieg die Mehrheit der Einwohner. Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass Israel Evakuierungsordern erteilt, die nicht erfüllt werden können.
Weil beide angrenzenden Länder – Ägypten und Israel – ihre Grenzübergänge geschlossen haben, bleibt den Flüchtenden nichts anderes übrig, als innerhalb des Gazastreifens nach Süden weiterzuziehen.
Wie viele Menschen in den ersten Wochen genau flüchteten, ist nicht bekannt. Erst seit Israel die Salah-al-Din-Strasse am 5. November zum «humanitären Korridor» erklärte, gibt es Schätzungen der UNO zu den Flüchtlingszahlen. Demnach blieb etwa ein Drittel der Menschen trotzdem im Norden, wohl aus Angst, auf der Flucht ins Feuer zu geraten.
Gegen Winter spitzt sich die Lage für die Geflüchteten im Gazastreifen immer weiter zu. Die wenigen Hilfsgüter, die über die Grenze kommen, reichen nur knapp. Die Palästinenser in Gaza seien auf der Suche nach «allem, was sie zum Überleben bekommen können», sagt Martin Griffiths, der oberste Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen, im Januar 2024.
Während Israel plant, die Kämpfe gegen die Hamas auszuweiten, werden die im Gebiet Chan Junis lebenden Menschen erneut aufgefordert, sich nach Rafah oder in Richtung Küste zu begeben. Die dortigen UNO-Auffanglager platzen allerdings schon aus allen Nähten: Laut Angaben der UNO leben bereits viermal mehr Menschen dort als eigentlich vorgesehen.
Mittlerweile befinden sich schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen in Rafah, das zuvor rund 270'000 Einwohner zählte. «Man kann nicht einen Fuss vor den anderen setzen, ohne nicht auf jemanden zu treten», berichtet ein Augenzeuge gegenüber dem Bayrischen Rundfunk.
Seit dem 1. Januar habe nur etwa ein Viertel von 21 geplanten Konvois mit Lebensmitteln, Medikamenten und anderen lebenswichtigen Gütern den Norden des Gazastreifens erreicht.
Was die Lage zusätzlich erschwert: Unter den Geflüchteten verschanzen sich laut Medienberichten etwa 20'000 Hamas-Kämpfer. Damit widersetzen sie sich dem sogenannten Unterscheidungsgebot, das laut Völkerrecht alle Kriegsparteien dazu verpflichtet, von der Zivilbevölkerung Abstand zu halten.
Die Situation für die Bevölkerung des Gazastreifens ist besonders ausweglos. Während die Zivilbevölkerung in vielen anderen bewaffneten Konflikten in sichere Nachbarländer oder weiter weg flüchten kann, haben die Menschen im Gazastreifen diese Möglichkeit kaum. Das gesamte Gebiet ist von einer sechs Meter hohen und mit Kameras und Bewegungsmeldern ausgestatteten Sperranlage umzäunt. Auch über das Meer dürfen Palästinenser den Gazastreifen nicht verlassen – israelische Motorboote kontrollieren das Gewässer.
Ägypten und Jordanien, die seit Jahrzehnten wichtige Vermittler im Nahost-Konflikt sind und davor bereits Hunderttausende palästinensische Geflüchtete aufgenommen hatten, weigern sich seit Oktober 2023 weitestgehend, Opfer des neu aufgeflammten Konflikts Unterschlupf zu gewähren. Wohl auch aus Angst, den Terror der Hamas ins eigene Land zu bringen.
Trotzdem gelingt es einigen wenigen, über die ägyptische Grenze zu flüchten. Wer einen ausländischen Pass oder eine medizinische Behandlung in Ägypten in Aussicht hat, darf frei passieren. Die allermeisten aber müssen für die Reise zahlen: 2500 bis 5000 US-Dollar, viel mehr also, als sich ein Grossteil der Bewohner des Gazastreifens leisten kann. Andernorts heisst es, die Ausreise koste sogar 10'000 Dollar. Dennoch gelangen auf diesem Weg insgesamt rund 100'000 Menschen nach Ägypten.
Dort angekommen, gehen die Probleme weiter: Da palästinensische Geflüchtete keinen offiziellen Flüchtlingsstatus haben, haben sie kein Anrecht auf international bereitgestellte Hilfsgüter in Ägypten. So sind sie vollständig auf das Wohlwollen von Privatleuten und kleinen lokalen Hilfsorganisationen angewiesen.
Die palästinensische Bevölkerung im Nahen Osten umfasst schätzungsweise acht bis neun Millionen Menschen mit unterschiedlichem Rechtsstatus. Ein Grossteil davon lebt in Flüchtlingslagern in Jordanien, Syrien, dem Gazastreifen, dem Westjordanland und im Libanon.
Für sie gibt es eigens ein Flüchtlingswerk, die UNRWA. Deren Aufgabe ist die Versorgung von Palästinensern, die im Zuge der «Nakba» fliehen mussten. Die Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland werden trotz ihrer Zugehörigkeit zu den Palästinensischen Autonomiegebieten von der UNRWA mehrheitlich als Flüchtlinge geführt und sind zumeist faktisch staatenlos.
Zudem gibt es viele Länder, die den Staat Palästina nicht anerkennen. Aus deren Sicht gelten noch mehr Menschen als staatenlos.
Der aktuelle Konflikt verschärft die ohnehin prekäre Situation der Palästinenser.
Für viele ist die Hoffnung auf Frieden und damit auch auf eine Rückkehr in alte Heimatorte in immer weitere Ferne gerückt. Aktuell sind nach UNO-Angaben noch immer fast 1,9 Millionen Menschen innerhalb des Gazastreifens auf der Flucht. Das sind über 85 Prozent der Bevölkerung. Seit Kriegsbeginn seien zudem 41'802 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet (Stand 04.10.2024) und über 96'844 Menschen verletzt worden, wie das Gesundheitsministerium im Gazastreifen meldet. Unter den Getöteten seien mehr als 11'000 Kinder (Stand 19.9.2024). Die Behörde wird von der terroristischen Hamas kontrolliert. Internationale Expertinnen und Experten schätzen die Zahlen des Gesundheitsministeriums aber als realistisch ein.
An der UNO-Generalversammlung im September 2024 fassten die Leiter der wichtigsten UNO-Hilfsorganisationen die Lage in Gaza folgendermassen zusammen:
Sie rufen die internationale Gemeinschaft erneut auf, das humanitäre Völkerrecht, die internationalen Menschenrechtsnormen und die Urteile des Internationalen Gerichtshofs einzuhalten.
Und ein Ende ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die jüngste Eskalation im Libanon dürfte weitere Millionen von Menschen in die Flucht treiben.