Es war absehbar: Nach dem Tod von Ismail Hanija, dem Chefdiplomaten der Hamas, ernannte die Hamas Jihia al-Sinwar zu ihrem alleinigen Führer. Der 61-Jährige herrscht de-facto bereits seit 2017 über den Gazastreifen und gilt als Drahtzieher des Terrorangriffs auf Israel vom 7. Oktober 2023.
Was weiss man sonst noch über ihn und was ist von ihm zu erwarten? Ein Blick auf seinen Werdegang gibt Anhaltspunkte.
Sinwar wurde 1962 im Flüchtlingslager Chan Yunis geboren, als der Gazastreifen noch ägyptischer Herrschaft unterstand. Davor war seine Familie aus Al-Mahdal-Asqalan – heute bekannt als die israelische Küstenstadt Ashkelon – während des Palästinakrieges 1948 geflüchtet. Nach der Sekundarschule studierte er Arabistik an der Islamischen Universität in Gaza.
Bereits während seines Studiums wurde Sinwar 1982 verhaftet. Im Gefängnis freundete er sich mit späteren Schlüsselfiguren der Hamas an. Nach einer erneuten Festnahme 1985 war er an der Gründung einer Organisation mitbeteiligt, die darauf abzielte, Israel-Kollaborateure unter den Palästinensern zu identifizieren. 1987 wurde sie zu einem Organ der Hamas.
1988 wurde Sinwar erneut verhaftet, weil er die Entführung und die Ermordung zweier Israelis geplant und vier Palästinenser, die er der Kooperation mit Israel verdächtigte, ermordet hatte. Während der Anhörung durch die israelischen Behörden gab er die Morde ohne jegliche Reue zu – er sah es als seine Pflicht an, den Kollaborateuren Geständnisse zu entlocken. Für seine Taten wurde er zu mehreren lebenslangen Gefängnisstrafen verurteilt. Er war damals 27 Jahre alt.
Das Gefängnis hielt ihn nicht davon ab, seine Suche nach Kollaborateuren weiterzuführen. Gemäss israelischer Behörden soll er für den Mord von mindestens zwei Häftlingen verantwortlich sein, die er der Kollaboration verdächtigte. Schnell wurde Sinwar von seinen Mitgefangenen gefürchtet und respektiert – man nannte ihn unter anderem den «Schlächter von Chan Yunis».
Mit ins Gefängnis geschmuggelten Mobiltelefonen blieb er mit Hamas-Führern ausserhalb des Gefängnisses in Kontakt. Zudem lernte er fliessend Hebräisch, las israelische Nachrichten und übersetzte sogar hebräische Autobiografien, die von ehemaligen Leitern des israelischen Inlandsgeheimdienstes geschrieben worden waren.
Im Gefängnis entwickelte sich Sinwar nicht nur zu einem Anführer, sondern auch zu einem «Spezialisten für die Geschichte des jüdischen Volkes», wie er sich selbst nannte. Er eignete sich Wissen an, das ihm Jahre später, am 7. Oktober 2023, die Umsetzung eines beispiellosen Terrorangriffs erlaubte.
Einer, der mit Sinwar eine spezielle Beziehung pflegte, war der Gefängniszahnarzt Dr. Bitton. Gegenüber der New York Times erzählte er im Mai 2024, dass er sich so oft in den Zellblocks aufgehalten habe, dass ihn einige Häftlinge verdächtigten, ein Spion zu sein. Schnell merkten sie jedoch, dass das Interesse Bittons an den Menschen, das über das Medizinische hinausging, aufrichtig war. Für viele palästinensische Häftlinge wurde er zu einer Vertrauensperson.
“I had hundreds of hours of conversations with Sinwar… He is willing to sacrifice even 100,000 Palestinians to ensure the survival of his rule.” Yuval Bitton knows Yahya Sinwar better than almost anyone in Israel. He was a dentist in the prison where Sinwar was held for years,… pic.twitter.com/zRt81IhFTt
— Christiane Amanpour (@amanpour) June 20, 2024
Auch Sinwar war ihm bekannt. Als ihm bei einem Treffen mit dem Palästinenser eine unübliche Verwirrtheit und Benommenheit auffiel, informierte er sofort seine Kollegen. Sinwar wurde ins Spital eingeliefert, wo ihm ein aggressiver Hirntumor entfernt und sein Leben gerettet wurde.
Sinwar bedankte sich beim Zahnarzt und betonte, wie wichtig im Islam die Tatsache sei, dass er ihm das Leben gerettet habe. Ab diesem Zeitpunkt begannen sich Bitton und Sinwar regelmässig zu treffen. Die Gespräche seien allerdings nie persönlich gewesen, erzählt Bitton. Sie hätten sich immer um die Hamas und ihren Landesanspruch gedreht.
Sinwar betonte, dass die Zwei-Staaten-Lösung für ihn nicht infrage käme und machte keinen Hehl aus seinen Zukunftsplänen. So soll er zum Zahnarzt gesagt haben:
2007 erlangte die Hamas volle Kontrolle über den Gazastreifen, vier Jahre später kam Sinwar in einem Gefangenenaustausch frei – ein Austausch, an dessen Verhandlungen er selbst massgeblich beteiligt war.
Dr. Bitton warnte die Mediatoren, Sinwar nicht freizulassen, wurde aber nicht gehört. Er habe nicht so viel jüdisches Blut an den Händen, hiess es von den Verantwortlichen. Doch Dr. Bitton wusste, dass sie eine viel gefährlichere Tatsache ausser Acht liessen: Sinwars Potenzial.
Seine Befürchtungen sollten sich bestätigen: Nur Stunden nach seiner Freilassung rief der damals 50-jährige Sinwar die Qassam Brigaden (den militärischen Arm der Hamas) auf, mehr israelische Soldaten zu entführen. Dadurch sollten weitere Angehörige, die noch immer hinter Gittern seien, die Freiheit erlangen.
Nach seiner Freilassung übernahm er innerhalb der Hamas eine ranghohe Position und setzte sich weiterhin für die Befreiung der Palästinenser ein. Die Zeit im Gefängnis hatte ihn geprägt. In einem seltenen Interview mit westlichen Medien sprach er 2015 mit einer italienischen Journalistin über seine Erfahrungen:
Obwohl er im Gefängnis viel gelernt habe, wünsche er diese Erfahrung niemanden:
Und eigentlich, so Sinwar, sei er noch immer gefangen:
Damals, 2015, betonte er im Interview, dass er nicht an einem Krieg interessiert sei:
Von der Journalistin auf die Tatsache angesprochen, dass er dennoch Hamas-Anführer sei und schon sein ganzes Leben lange kämpfe, antwortete er, dass er keinen Krieg mehr wolle. Er wolle das Ende der Besatzung. Und eine Zukunft für die Jugend:
Die Journalistin liess nicht locker. Wieso er denn Waffen kaufe und Ressourcen in den Bau von Tunnels investiere, anstatt die Bevölkerung zu ernähren, wollte sie von ihm wissen. Sie hätten Milch, Lebensmittel und Medizin gekauft, versicherte ihr Sinwar. Er betonte dennoch:
Dann beklagte sich darüber, dass Gaza nur mit Blut in die Schlagzeilen komme:
Anfang 2017 wurde Sinwar zum Anführer im Gazastreifen gewählt und ersetzte damit seinen Vorgänger Ismail Hanija, der zum Chef der Hamas wurde. In seinem neuen Amt forderte er die Militanten dazu auf, mehr israelische Soldaten zu entführen und ermutigte die Menschen im Gazastreifen dazu, die Gaza-Blockade durch Israel zu durchbrechen. Im Mai 2018 betonte er, dass der Tod den Menschen im Gazastreifen nichts ausmache:
Er proklamierte:
Am 7. Oktober machte die Hamas mehrere von Sinwars Ankündigungen wahr: Hamas-Kämpfer töteten fast 1200 Israelis und nahmen 250 von ihnen als Geiseln. Dieser beispiellose Überfall löste den Gaza-Krieg aus, bei dem bis heute über 40'000 Palästinenser und Palästinenserinnen gestorben sind.
Für Sinwar ein nötiges Opfer. Eines, das ihm sogar gelegen kommt. Dies sagte er in geleakten Sprachnachrichten gegenüber Hamas-Vertretern, die mit katarischen und ägyptischen Vertreten ein Abkommen aushandeln wollten. Der Tod palästinensischer Zivilistinnen und Zivilisten reiche zum Vorteil, so Sinwar. Und weiter:
Sinwar setze darauf, dass die Hamas den Sieg erringt, indem sie als Gruppe überlebt, schrieb das «Wall Street Journal» am Dienstag. Die Hamas vermittele mit Sinwars Ernennung zu ihrem alleinigen Anführer die Botschaft, «dass sie strategisch hinter dem Ansatz des bewaffneten Widerstands steht», zitierte das «Wall Street Journal» Jehad Harb, politischer Analyst beim Palestinian Center for Policy and Survey Research, einer im Westjordanland ansässigen Denkfabrik.
Das bedeute, dass sich die Hamas von der Rolle als politische Einheit, die regieren will, entferne, schrieb die US-Zeitung weiter. Sinwar befürworte zudem eine enge Abstimmung mit dem Hamas-Unterstützer Iran, der das Existenzrecht Israels bestreitet. Er scheine jene Stimmen in der Hamas übertrumpft zu haben, die dem Ansatz skeptisch gegenüberstanden.
Mit Jihia al-Sinwar wird der Gazastreifen von einem Mann geführt, dem für die glorreiche Zukunft seiner Nation alle Mittel recht sind. Für seinen Traum eines befreiten Palästinas nimmt er den Tod von Zehntausenden Menschen leichtfertig in Kauf. Versteckt in den Tunneln des Gazastreifens hält er alle Fäden in der Hand und lehnt Abkommen zur Waffenruhe ab.
Wo er sich aufhält, weiss auch von der Hamas fast niemand, um das Sicherheitsrisiko zu minimieren. Er ist ständig auf der Flucht, kämpft täglich ums Überleben. Er will Freiheit, doch mit dem 7. Oktober hat sich Sinwar selbst ein Gefängnis geschaffen, aus dem er nie mehr entkommen wird.
Israel kann man kritisieren, aber wie würdet ihr vorgehen? Viele Familien in Israel haben Vorfahren, die den Holocaust erlebt haben. Jetzt gibt es in der neuen Heimat, wieder Menschen die Dich exekutieren wollen.
Und kommt mir nicht mit Diplomatie. Das ist keine normale Konflikt Situation. Eine Seite will die Andere komplett auslöschen.