Eines der bekanntesten Zitate von Henry Kissinger lautet: «Macht ist das beste Aphrodisiakum.» Es bringt das Wesen des ehemaligen amerikanischen Aussenministers und Sicherheitspolitikers perfekt auf den Punkt. Kissinger war die Verkörperung einer Politik, in der hehre Ideen vergänglich, reale Macht beständig sind. Man kann dies Realpolitik nennen – oder auch blanken Zynismus.
Wie auch immer, jenseits jeder Moral sind sich alle einig: Kissinger war der wohl bedeutendste Staatsmann der Nachkriegszeit. Er war zwar nicht Präsident der USA. Das hätte er auch nie werden können, da er in Deutschland auf die Welt gekommen und seine jüdische Familie vor den Nazis geflohen war. Sein Englisch hatte daher bis zu seinem Lebensende einen starken deutschen Akzent.
Kissinger war jedoch eine Zeitlang gleichzeitig nationaler Sicherheitsberater und Aussenminister. Das gab ihm eine einzigartige Machtfülle, und als Richard Nixon wegen der Watergate-Affäre in den Seilen hing, war er de facto auch so etwas wie ein Schattenpräsident der USA.
Unbestritten war Kissinger ein brillanter Kopf, doch im persönlichen Umgang war er alles andere als einfach. Er galt als eitel und aufbrausend. Bei seinen häufigen Wutanfällen soll er mit Büchern um sich geschmissen haben. Ebenso hat er selbst seine engsten Mitarbeiter manipuliert. Walter Isaacson beschreibt ihn in seiner 1992 erschienen Biografie als abgezockten Intriganten: «Er verstand es, Menschen zu verschwörerischen Allianzen zusammenzuschmieden und ihre gegenseitige Feindseligkeit zu seinen Gunsten auszunutzen.»
Ohne Richard Nixon wäre Kissinger nie zu dem geworden, was er schliesslich wurde. Die beiden bildeten ein eigenartiges Paar. Hier der nüchterne Praktiker Nixon, da der verkopfte Harvard-Professor. Doch die Verbindung funktionierte, weil ungezügelter Drang nach Macht die beiden verband. Kissinger formulierte es einst wie folgt: «Das Illegale erledigen wir sofort, das Verfassungswidrige dauert ein bisschen länger.»
Das grosse Vorbild von Kissinger war Fürst Klemens von Metternich. Ihm hat er seine Doktorarbeit gewidmet. Metternich hatte als Einflüsterer am Kaiserhof von Wien die Politik nach Napoleon im 19. Jahrhundert massgeblich bestimmt und hatte es wie der US-Aussenminister meisterhaft verstanden, die verschiedenen Interessensgruppen gegeneinander auszuspielen.
Institutionen wie der UN konnte Kissinger hingegen wenig abgewinnen. Er setzte auf eine «shuttle diplomacy», will heissen, er jettete fast pausenlos rund um die Welt und unterhielt sich mit den jeweiligen Staatsmännern unter vier Augen. So konnte er seine grösste Stärke ausspielen. Nochmals Isaacson: «Zu seinen jeweiligen Gegnern fühlte er sich fast zwanghaft angezogen. Er suchte ihre Zustimmung mit Schmeicheleien und indem er sie gegeneinander ausspielte.»
Zu Kissingers wichtigsten Erfolgen zählen:
Er hat einen Frieden im Vietnamkrieg ausgehandelt. Zusammen mit dem nordvietnamesischen Aussenminister wurde er 1973 deswegen mit dem Friedens-Nobelpreis ausgezeichnet. Diese Auszeichnung war ein Hohn und der schlimmste Fehltritt des Stockholmer Komitees. Zuvor hatten Nixon und Kissinger über Vietnam mehr Bomben abwerfen lassen, als dies die Alliierten im Zweiten Weltkrieg über Deutschland getan hatten.
Weiter hat Kissinger ein Abkommen über die Begrenzung der Atomwaffen mit der Sowjetunion erzielt. Seine Rolle als Vermittler im Nahen Osten kann er sich ebenfalls als gelungen anrechnen lassen. Seine wichtigste Tat war jedoch die Annäherung der USA und China. Es gelang dem Aussenminister, einen Keil zwischen Peking und Moskau zu treiben und China langsam für die westliche Wirtschaft zu öffnen.
Mit von der Partie war dabei ein gewisser Deng Xiaoping, der später die katastrophale Wirtschaftspolitik von Mao Zedong umkrempeln und so Chinas Wirtschaftswunder einleiten sollte. Angesichts der aktuellen Rivalität zwischen den beiden Supermächten wird heute in Washington Kissingers Aussöhnung mit Peking allerdings mit gemischten Gefühlen betrachtet.
Seine schlimmste Schandtat hat Kissinger in Chile begangen. 1973 hatte er seine Hände im Spiel, als eine Militärjunta unter General Augusto Pinochet in einem Putsch den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende ermordete und das Land in eine jahrzehntelange brutale Diktatur stürzte. Kissinger kümmerte dies keinen Deut. «Die Sache ist viel zu wichtig, um sie den Wählern Chiles zu überlassen», kommentierte er kalt die blutigen Ereignisse in Südamerika.
Keine rühmliche Rolle spielte Kissinger auch, als pakistanische Militärs 1971 Bangladesch bombardieren liessen und indonesische Soldaten in Osttimor einfielen.
Nachdem Nixon wegen der Watergate-Affäre zurücktreten musste, diente Kissinger zunächst noch unter dessen Nachfolger Gerald Ford. Der moralische Jimmy Carter hingegen wollte nichts vom Zyniker Kissinger wissen. Der ehemalige Aussenminister verliess deshalb Washington und gründete in New York seine eigene Beraterfirma. In der Folge verfasste er eine ganze Reihe von Büchern und liess sich für Reden und andere Auftritte fürstlich entlöhnen.
Auch vor dubiosem Engagement schreckte er nicht zurück. So liess er sich beispielsweise in den Aufsichtsrat des kanadischen Verlegers Conrad Black wählen. Dieser wurde 2007 wegen Betrugs zu sechseinhalb Jahre Gefängnis verurteilt. Zu gar elfeinhalb Jahre Gefängnis wurde 2022 Elizabeth Holmes verbrummt. Sie hatte mit ihrer Firma Theranos eine Zeitlang die halbe Welt an der Nase herumgeführt und den greisen Kissinger in ihren Verwaltungsrat gelockt.
Wie fällt das Urteil über Kissingers Realpolitik heute aus? Eher schlecht. Seine zynische Realpolitik hat die Glaubwürdigkeit der USA untergraben und mitgeholfen, dass heute vor allem im Globalen Süden die amerikanische Geopolitik als heuchlerisch empfunden wird. Ben Rhodes, nationaler Sicherheitsberater unter Barack Obama, fasst es in einem Gastkommentar in der «New York Times» wie folgt zusammen:
«Heute holt uns die Geschichte ein. Rund um den Globus sehen wir das Wiederauferstehen von Autokratien und Ethno-Nationalismus, am ausgeprägtesten in Russlands Krieg gegen die Ukraine. (…) Zu diesen Resultaten kann Zynismus führen. Es gibt keine höheren Bestrebungen mehr, keine Story, welche unseren Aktionen Bedeutung verleiht. Die Politik ist zu einem Null-Summen-Spiel verkommen. In dieser Welt regiert einzig die Macht.»
Henry Kissinger