Gerhart Baum ist der «Grand Old Man» der deutschen FDP. Der 87-jährige ehemalige Innenminister ist ein überzeugter Verfechter von Demokratie und Rechtsstaat. Was am Mittwoch in Thüringen geschah, empört ihn zutiefst: «Ich sage seit Monaten: über Deutschland liegt ein Hauch von Weimar. Seit heute ist es so weit: Wir haben wirklich ein bisschen Weimar», sagte Baum im Interview mit «Zeit Online».
Nun liegt Weimar, dieses Epizentrum des deutschen Geisteslebens, tatsächlich in Thüringen. Aber Gerhart Baum meint natürlich nicht das Weimar von Goethe, Schiller, Liszt und Bauhaus, sondern die Weimarer Republik von 1919 bis 1933. Dieser erste und glücklose Versuch einer deutschen Demokratie endete mit der Machtergreifung der Nazis.
Gescheitert ist die Weimarer Republik nicht nur an ihren strukturellen Mängeln, sondern primär am mangelnden Rückhalt der Demokratie in weiten Teilen des deutschen Bürgertums. Genau daran fühlten sich viele am Mittwoch erinnert, als der FDP-Politiker Thomas Kemmerich sich im Landtag in Erfurt mit den Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten von Thüringen wählen liess.
Eine Unterstützung durch die Rechtsaussen-Partei galt in Deutschland bislang als undenkbar. Seither herrscht eine Art Ausnahmezustand. Menschen gehen auf die Strasse und protestieren gegen den Regierungschef von AfD-Gnaden. Bundeskanzlerin Angela Merkel schwieg lange, ehe sie die Wahl in Thüringen als «unverzeihlich» kritisierte.
"Es war ein schlechter Tag für die Demokratie", sagt Angela #Merkel zum Wahl-Eklat in #Thueringen. Sie kritisiert die Wahl des #FDP-Politikers #Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten mit #AfD-Stimmen als "unverzeihlich". #ThueringenWahl pic.twitter.com/UAZyTwSBZE
— ZDF heute (@ZDFheute) February 6, 2020
So sehen es auch die Kommentare in den meisten Medien.
Einen Kontrapunkt setzte die NZZ, die sich aktiv um Leserinnen und Leser nördlich des Rheins bemüht und ihr Berliner Büro personell aufgestockt hat. Sie findet die Thüringer Wahl überhaupt nicht skandalös: «Das ist Demokratie! Was im Erfurter Landtag stattgefunden hat, ist eine freie Wahl, und darüber hinaus hat ein liberaler und bürgerlicher Kandidat diese Wahl gewonnen.»
Es gebe «keinen plausiblen Grund, das Ergebnis moralisch zu verurteilen», heisst es weiter. Mit anderen Worten: Es ist für die NZZ überhaupt kein Problem, dass CDU und FDP sich vom widerlichsten Landesverband der AfD an die Macht befördern lassen. Ihr Chef Björn Höcke ist die Galionsfigur des rechtsradikalen «Flügels», der völkisch-nationalistisches Gedankengut vertritt.
Für Journalisten in Berlin ist es offenkundig, dass die NZZ mit ihrer Deutschland-Strategie primär auf die AfD-Anhängerschaft zielt. Es wird der Zentrale in Zürich immer schwerer fallen, diese Annahme zu widerlegen. Wie es auch ginge, zeigt der Chefkommentator der konservativen Springer-Zeitung «Die Welt». Er zeigt in Sachen Thüringen klare Kante:
Jeder Politologie-Student lernt im ersten Semester, dass Demokratie mehr ist als die Herrschaft der Mehrheit. Es geht um Werte, um das Verhältnis zu Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Das wissen gerade die Deutschen aufgrund ihrer Geschichte, weshalb Regierungen in der Regel einen Koalitionsvertrag abschliessen, in dem sie sich auf die Grundzüge ihrer Politik verständigen.
Das ist in den letzten Jahren schwieriger geworden, weil sich die Parteienlandschaft fragmentiert hat und in den Bundesländern ein buntes Sammelsurium an farblichen Kombinationen regiert. Selbst die Linke, die aus der DDR-Einheitspartei SED hervorging, ist in mehreren Ländern an der Macht beteiligt. In Thüringen stellte sie mit Bodo Ramelow sogar den Ministerpräsidenten.
Einzig gegenüber der AfD bestand eine «Brandmauer». Am Mittwoch ist sie eingestürzt. Thomas Kemmerich wirkte nach seiner Wahl ratlos. Er wollte das Gespräch mit SPD und Grünen suchen, doch die dachten nicht daran, mit ihm zu koalieren. Ohnehin hätte auch ein Viererbündnis aus CDU, SPD, Grünen und FDP keine Mehrheit im Landtag.
Eine Expertenregierung widerspricht dem Wählerwillen und ist nur für Notsituationen vorgesehen. Machbar gewesen wäre nur eine Mini-Minderheitsregierung von CDU und FDP mit 26 von 90 Sitzen in Erfurt, die sich von der AfD tolerieren lässt. Kemmerich schien anfangs nicht völlig abgeneigt zu sein, er schloss einzig direkte Absprachen oder gar eine Koalition mit der AfD aus.
Das aber wäre tatsächlich ein Dammbruch gewesen. Deshalb blieb dem Ministerpräsidenten am Donnerstag nichts anderes übrig, als Neuwahlen anzukündigen. Mit dem Risiko, dass die FDP, die im letzten Herbst die Fünf-Prozent-Hürde nur knapp genommen hat, abgestraft wird. Grosser Profiteur könnte Bodo Ramelow werden. Er ist in Thüringen sehr beliebt, selbst politische Gegner attestieren dem pragmatischen Linkspolitiker eine gute Arbeit.
Das ostdeutsche Bundesland könnte bald zur Normalität zurückkehren. Und dennoch wurde mit Kemmerichs Wahl ein Tabu gebrochen. Rückgängig machen lässt sich dies nicht mehr. Weimar liegt definitiv in Thüringen, seit Mittwoch nicht mehr nur auf der Landkarte, sondern auch politisch.
Anmerkung: Der Text wurde nach Thomas Kemmerichs Ankündigung vom Donnerstag überarbeitet und auf den aktuellen Stand gebracht.
Nun wollen sie halt im grossen Kanton halt auch noch die Positionen des völkischen Beobachter übernehmen, was ja logische Strategie ihrer Expansionspolitik wäre.
Man sollte sich eher einmal ernsthaft darüber Gedanken machen, warum die AfD soviel Wähler mobilisieren kann. Dieses "Das darf doch nicht sein!" -Geheule geht mir dermassen auf den Sack. Macht die Augen auf! Es kocht im braunen Sumpf und sie mobilisieren. Mit elitären Gehabe erreicht man die Basis nicht.
Man sollte sich nicht über die Wahlgewinne der AfD empören, sondern ihr Gebaren knallhart aufdecken das stimmt, aber was bitte hat es mit Demokratie zu tun sich durch die Hintertür an die Macht zu schlängeln und dabei auch die Interessen der eigenen Wähler in den Wind zu schlagen, denn ich sehe nicht wie der Wirtschaftsliberalismus der FDP mit geschlossenen Grenzen und Rassenhass und das ist es, was die AfD in Thüringen nunmal leider Gottes Predigt liebe Beschwichtiger, kompatibel sein soll.