Hört auf, Charlie Kirk ist kein Held!
Egal, welches Medium ich heute Morgen lese: Überall ist die Top-Story dem politischen Megaspektakel der MAGA-Bewegung Gedenkgottesdienst für Charlie Kirk vorbehalten. Aus Dutzenden Internetkacheln schaut er mich an: der am 10. September ermordete Politaktivist.
Ich finde: Jetzt ist aber auch mal gut.
Bevor mir Heuchelei vorgeworfen wird. Ja, auch watson hat viel und ausgiebig über den Tod des rechtskonservativen Polit-Aktivisten berichtet. Und das war angebracht: Kirk war eine der einflussreichsten Stimmen unter den Erzkonservativen und Ultrareligiösen in den Vereinigten Staaten. US-Vizepräsident J.D. Vance sagte in seiner Rede am Begräbnis Kirks, ohne ihn wäre Trump kein zweites Mal Präsident geworden.
Als Charlie Kirk am 10. September bei einer Veranstaltung an einer Universität erschossen wurde, war das Breaking News. Und eine demokratische Tragödie: Selbst der hasserfülltesten, niederträchtigsten und infamsten Meinung ist nicht mit Schüssen zu begegnen.
Das ist nicht normal
Seitdem sind knapp zwei Wochen verstrichen, der Attentäter hat sich gestellt. Es ist gut möglich, dass er Kirk umbrachte, weil er dessen rechtsextreme Positionen verachtete. Seine Eltern haben gegenüber dem FBI ausgesagt, er habe sich in den letzten Jahren linken Themen zugewandt. Es gibt aber auch die Deutung, der Attentäter lasse sich nicht in ein klassisches Links-Rechts-Schema einordnen. Er könnte aus schierer Lust an Chaos und Zerstörung gehandelt haben. Das FBI kennt einen Begriff dafür: Nihilistic Violent Extremism.
Der Punkt ist: Im Moment können wir alle nur spekulieren.
Doch egal, ob republikanische Politikerinnen die Schuld am Mord den Demokraten in die Schuhe schieben, der US-amerikanische Vizepräsident sich persönlich hinter das Mikro klemmt, um Kirks Podcast fortzuführen oder sein Leichnam in der Air Force 2 durch die USA geflogen wird: Jede kleinste Äusserung, jede mikroskopisch kleine Bewegung in der Debatte wird registriert.
Es gibt einen Ort, wo für diese Entwicklungen Platz ist: im «Das Ist Nicht Normal-Ticker» von watson.
Im Eifer, auch noch den allerletzten Winkel der Biographie Kirks auszuleuchten, gehen zwei Dinge vergessen. Erstens: Jede weitere Geschichte über den Darling der Ultrarechten in den USA hilft seiner Sache: den Keil in die ohnehin schon polarisierte amerikanische Gesellschaft noch tiefer zu treiben.
Zweitens: Charlie Kirk hat für die Schweiz wenig Relevanz. Ausser ein paar sehr wenige sehr Politikinteressierte hat ihn bis zu seiner Ermordung hierzulande niemand gekannt. Die andauernde Berichterstattung über ihn ist überzogen – und schädlich.
Die problematischen Ansichten von Kirk erhalten so nie dagewesene Reichweite. Viel zu oft bleiben sie unwidersprochen und werden dadurch normalisiert. Geht das so weiter, machen wir seine problematischen Positionen auch in der Schweiz populär. Roger Köppel zum Beispiel hat angekündigt, im Stile Kirks das Streitgespräch mit Studierenden an den Universitäten suchen zu wollen.
Provokationen und Geschmacklosigkeiten
Es ist sicher nichts falsch daran, das Gespräch miteinander zu suchen. Probematisch ist aber, wenn Politiker wie Köppel damit Kirk zu einer Ikone der demokratischen Debatte stilisieren. Weil er das nicht war.
Kirk war ein politischer Agitator, der öffentlich Abtreibungen mit dem Holocaust verglich. Der in seinem Podcast darüber nachdachte, Hinrichtungen als öffentliches Spektakel zu inszenieren. Der sich wünschte, dass Joe Biden hingerichtet wird. Der forderte, ein «Patriot» möge doch die Kaution hinterlegen, um den Mann, der Nancy Pelosis Ehemann mit einem Hammer angegriffen hatte, aus dem Gefängnis zu bekommen.
Die Liste der Provokationen und Geschmacklosigkeiten liesse sich erweitern. Die für ihre akribische Recherche bekannte Dokumentationsabteilung des Spiegel hat ein Argumentarium zusammengestellt, warum Kirks Positionen als rechtsextrem eingestuft werden können.
Wir sollten es besser wissen
Auch wenn es von seinen Unterstützern in Dauerschleife behauptet wird: Charlie Kirk war höchstens vordergründig am demokratischen Wettstreit ums beste Argument interessiert. Stattdessen führte er, der rhetorisch Beschlagene und ideologisch Gefestigte, seine in der Regel weitaus jüngeren und in Debatten unerfahrenen Kontrahenten gnadenlos vor. Damit generierte er Klicks, damit wurde er bekannt.
Wir sollten es besser wissen. Ausgerechnet Donald Trump, in dessen Dienst sich Charlie Kirk bedingungslos gestellt hatte, wurde 2016 entgegen allen Prognosen und zu seiner eigenen Überraschung zum Präsidenten der USA gewählt. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Berichterstattung über Trump eine entscheidende Rolle spielte. Als politischer Nobody gestartet, erhielt er durch seine konstanten Provokationen mehr als doppelt so viel Medienaufmerksamkeit als jeder andere republikanische Bewerber oder jede andere Bewerberin. Ja, sie war überwiegend negativ; und doch hatte sie entscheidenden Anteil daran, den Politiker Donald Trump zu erschaffen.
Dass wir heute täglich über Trump berichten, ist richtig. Als US-Präsident ist er einer der mächtigsten Menschen der Welt. Seine Politik hat direkten Einfluss auf hunderte von Millionen von Menschen. Im Gegensatz zu Charlie Kirk auch in der Schweiz. Zum Beispiel in seiner Zollpolitik.
Donald Trump erklärt Kirk nun zu einem Märtyrer, der für seine politischen Überzeugungen gestorben sei. Durch die andauernde Berichterstattung helfen wir mit, diese gefährliche und falsche Heiligenverehrung zu legitimieren.
