Was für ein Leiden! Was für ein Elend. Von den Zeitgenossen missachtet, vom Markt verkannt, ein Gefangener von Irrsinn und Alkohol. Ein Verdammter unter der südfranzösischen Sonne. Das Leben des Wahnsinns-Malers Vincent van Gogh schien bis vor kurzem ein herzergreifendes Drama.
Mit diesem Märchen ist Schluss. Ein Ziegelstein von Buch, eine Aufarbeitung, die ihresgleichen sucht in Bezug auf eine Künstlerpersönlichkeit, gibt dem Gerücht, das in Kunstkreisen kursiert, die letzten Beweise in die Hand: Das elende Leben des Vincent van Gogh ist eine freie Erfindung! Seine finanzielle Misere und sein fehlendes Bewusstsein für sein Werk sind eine inszenierte Legende.
Hans Luijten, der leitende Wissenschafter am Van Gogh Museum in Amsterdam, legt in seiner neusten, soeben auf Deutsch erschienenen Publikation den Finger auf die Person, die für die Mär verantwortlich ist: Es ist Jo van Gogh-Bonger (1862-1925), Vincents Schwägerin.
Quellenmaterial wie Tagebücher, neue Dokumente und zahllose Briefe sind die Belege für die Cleverness einer Frau, die van Gogh weltberühmt gemacht hat. Und mehr: Sie hat das Narrativ des Elendskünstlers inszeniert und mit ihrer romantischen Verbrämung die Marke van Gogh ersonnen. Eiskalt hat Johanna die Legende des «armen Genies» in die Welt gesetzt und kultiviert.
Dabei war der echte van Gogh ein völlig anderer! Er hat seine Kunst konsequent und energisch entwickelt. Er genoss unter Künstlerkollegen höchste Anerkennung und hat sich auch an den Kunstdebatten der Zeitgenossen intensiv beteiligt. Selbstredend ausschliesslich in den Jahren und zu den Zeiten, als er frei von seiner Schwermut war. Doch auch in Krisen hat ihn sein Bruder Theo, ein Kunsthändler, grosszügig finanziert und mental unterstützt.
Johanna Bonger war ein Amsterdamer Mädchen und Tochter aus wohlhabendem Bürgertum. Ihre Jugend war sorglos und ihre Familienverhältnisse waren harmonisch. Die Ehe mit Theo van Gogh entsprach wohl eher seinem Wunsch denn dem ihren. Nach zwei kurzen Ehejahren verstarb ihr Mann an Syphilis, sechs Monate nachdem sich Vincent das Leben genommen hatte: Jo war damals 29 Jahre alt und Mutter des gemeinsamen einjährigen Sohnes, Vincent. Dessen Namensvetter, Onkel Vincent, der seinem Neffen zur Geburt das Bild «Mandelblüte» schenkte, hat sie zeit ihres Lebens drei Mal getroffen.
Mit dem Tod von Theo war die junge Witwe mit einem Schlag die Alleinerbin der riesigen Sammlung von 700 Gemälden, Tausenden von Skizzen, Zeichnungen und Briefen der Van-Gogh-Brüder. Jetzt war sie eine Monopolistin und mächtig.
Und sie setzte sich ein Ziel. Sie wollte aus dem unverkäuflichen Vincent einen Malerfürsten kreieren, dessen neue Art von Farbe und Farbbehandlung einen Wert hätten, der allein in dem Neuen, Anderen, Leidvollen und Kulthaften der Person läge.
Jo finanzierte und organisierte Ausstellungen, ganze sieben im Jahr nach Vincents Tod! 1905 im Stedelijk Museum Amsterdam, der Durchbruch in Europa. 1913 in den USA, in Paris, New York, der internationale Durchbruch. 30 Jahre nach dem Tod von Vincent war das, was damals wertlos schien, eine begehrte Luxusmarke für Reiche und Institutionen geworden. Die Museen rissen sich um Jos Bilder und zahlten für die damalige Zeit schwindelerregende Preise.
Die Exklusivität hat Gültigkeit bis heute: Am 9. November 2022 knackte van Goghs «Verger avec cyprès» bei Christies die magische 100-Millionen-Dollar-Marke. Das Bild ging zum Preis von 117'180'000 Dollar an neue, namentlich nicht genannte Besitzer.
Van Goghs «Sonnenblumen» auf Teetassen? Jo Bonger hat sie erfunden. Die «Mandelblüte» auf Krawatten, Socken, Schals? Jo Bogner hat sie schon zu ihrer Zeit angeregt. Sie lizenzierte van Goghs Bildmotive für diverse Produkte wie Kacheln, Fliesen und Stoffe. Die Merchandising-Artikel verhalfen dem unverkennbaren Van-Gogh-Stil zu enormer Bekanntheit und Verbreitung.
Jo Bonger erfand den van Gogh fürs Volk und flutete mit billigen Reproduktionen den Markt. Klug, wie sie war, ersann sie auch einen zweiten van Gogh, einen für die besten Museen. Also verknappte sie die Bilder und lenkte die Preispolitik. Gegen den Rat ihrer Freunde hortet Jo den Hauptteil ihrer riesigen Sammlung und stellt Werke nur sehr exklusiv und auf Anfrage zur Verfügung.
Wichtige Schlüsselwerke verkaufte sie gar nicht, sie sollten Leihgaben bleiben. Van Gogh erhielt so schon sehr früh den Hauch der Rarität. Mit jeder neuen Ausstellung und mit jedem Verkaufserfolg trieb Jo die Preise weiter nach oben. Mit stupender Cleverness und einem scharfen Bewusstsein für Markenbildung hat sie den Kunstmarkt für sich benutzt. Nicht nur benutzt, sondern auch revolutioniert.
Johannas Preispolitik war eine Erfolgsstrategie, und sie war von einer zweiten Idee nicht zu trennen. Der Markt lechzte nach Persönlichem! Da sie freie Hand in Bezug auf den Briefwechsel zwischen Theo und Vincent hatte, veröffentlichte sie ihn, absichtsvoll und manipulativ.
Jo brauchte Jahre, um sich einen Überblick zu verschaffen. 1914 war es so weit! Die Welt sollte die vollständige Korrespondenz zwischen den Brüdern kennen. Doch vollständig war diese bloss vermeintlich. Die Herausgeberin hatte sie in einer Art überarbeitet und kommentiert, dass sie ihrer Erfindung des Elendsmalers zupass kamen: Die «Schwermut» sollte Vincents ganzes Leben dominiert haben. Die «Selbstaufopferung» im Namen der Kunst sei ein Dauerleiden gewesen und seine «Überempfindlichkeit krankhaft». Ausserdem flocht sie aus der umfangreichen Familienkorrespondenz Indiskretionen ein, die sich für Zeitgenossen wie Homestorys lasen. Die Verwandtschaft war entsetzt!
Johanna Bonger hat Vincent van Gogh marktfähig gemacht. Sie tat es um den Preis der Wahrheit und mit den Mitteln einer Fälschung. Doch sie fälschte nicht das Werk des Künstlers, sondern das Bild seiner Person. Bonger wusste genau: Über den Wert von Kunst entscheidet das Gefühl. (aargauerzeitung.ch)