Die Bergbauern auf der Seebodenalp am Fuss der Rigi dürften gestaunt haben: Plötzlich kam eine grosse Reisegruppe, die englisch sprach, von der Bergspitze hinunter auf den Alpboden, mit Ponys, Tragkörben, Säcken. Bedienstete klappten Stühle auf und stellten eine Staffelei vor einen einfachen Stall, sodass sich eine klein gewachsene Frau hinsetzen und malen konnte. Dazu nippte diese an Schwarztee mit Milch.
Diese Szene ereignete sich am Nachmittag des 27. August 1868. Nach 45 Minuten packte die Reisegesellschaft wieder ihre Sachen zusammen und ging weiter, «ein steiler Abstieg auf von endlosen Obstbäumen überhangenen gewundenen Wegen. [...] Wir hatten alle das Gefühl, dass dies ein sehr erfolgreicher Tag gewesen war.» Die Person, die da auf der Seebodenalp gemalt und später ins Tagebuch notiert hatte, war Queen Victoria gewesen, die Königin des Vereinigten Königreichs Grossbritannien und Irland.
Sie war damals die wohl mächtigste Frau der Welt. Ihr Reich umfasste 1 Milliarde Menschen, sie hatte neun Kinder, war in 229 Kriege und Aufstände verwickelt, überlebte sieben Attentate und 21 Kabinette, sie galt als «Grossmutter Europas», hatte 40 Enkel und 88 Urenkel, und eine ganze Epoche wurde nach ihr benannt: das «Viktorianische Zeitalter». Queen Victoria regierte 63 Jahre lang.
Und dennoch, auf ihrer Reise 1868 in die Schweiz war sie eine gebrochene Frau – eine verletzte, verunsicherte Königin. Ihre Tour de Suisse war eine Art Flucht vor der grossen Verantwortung und den unzähligen Pflichten, die eine Herrscherin über das British Empire zu erfüllen hatte. Queen Victoria befand sich nach dem Tod ihrer Mutter und vor allem nach dem Tod ihres Gatten Prinz Albert in einem tiefen seelischen Loch. Sie litt – so würde man es heute wohl diagnostizieren – an einem akuten Burnout.
Eine vierwöchige Reise in die Schweiz sollte Gesundung und Erholung bringen. Im August 1868 kam die königliche Reisegesellschaft nach Luzern. Um die gesuchte Stille und Musse zu erreichen, reiste Victoria unter dem Namen «Gräfin von Kent» und gab damit zu verstehen, dass sie nicht als Königin begrüsst werden wollte, sondern als Privatperson unterwegs war. In Luzern wohnte sie in der Pension Wallis und war von der Weitsicht in die Landschaft begeistert, wie sie in ihr Tagebuch schrieb.
In den folgenden Tagen und Wochen bereiste sie, für eine angeschlagene Monarchin erstaunlich unternehmungslustig, die ganze Innerschweiz: Victoria sah sich die Tellskapelle an, stieg in Brunnen und Küssnacht an Land, reiste zu den Mythen, nach Goldau, nach Zug, auf den Pilatus, zur Wallfahrtskirche Hergiswald, auf den Brünigpass und nach Engelberg – und sie besuchte Rigi Kulm und eben auch die Seebodenalp. Egal, wo sich die Reisenden befanden: Ihren typisch englischen Gewohnheiten entsprechend musste Punkt 17 Uhr der Afternoon Tea auf dem Tisch stehen, unter grössten Strapazen für das Personal.
Die Queen spazierte, ritt auf ihren aus England mitgebrachten Ponys, schrieb, ruhte aus und ass. Und sie nahm sich immer wieder Zeit, um die Schweizer Landschaft zu zeichnen und zu aquarellieren. Sie saugte die Landschaftsbilder gleichsam in sich auf. Die Notizen in ihrem Tagebuch zum Vierwaldstättersee zeugen von ihrem malerisch geübten Auge: «Der See, ein ganz wunderbares Saphirblau und Smaragdgrün, changiert von der einen Farbe zur anderen. [...] Es war prachtvoll & nichts kann die Schönheit des Sees in irgendeiner Richtung übertreffen.»
Gut einen Monat war die Königin in der Innerschweiz zu Gast und erstellte immerhin 59 Skizzen und Bilder, die noch heute erhalten und in der berühmten «Royal Collection» in London enthalten sind. Dazu muss man wissen, dass die Königin seit ihrem achten Lebensjahr Zeichen- und Malunterricht bekam, teilweise von namhaften Kunstschaffenden. Dabei blitzte immer wieder ihr Talent auf, das sich bei ihren Schweizer Ansichten durchaus entdecken lässt.
Auf jeden Fall musste der Hofstaat auf all ihren Touren durch die Innerschweiz Staffelei, Pinsel, Farben oder mindestens den Skizzenblock mittragen. Dann setzte sich die Monarchin hin, skizzierte mit Bleistift und Kohle oder griff gleich zu den Aquarellfarben. Zu den königlich gestalteten Ansichten zählen beispielsweise der Blick von Engelberg auf den Titlis und auf die Spannörter, die Aussicht auf den Pilatus oder die Rigi sowie der Ausblick auf den Alpnacher-, Lauerzer- und auf den Zugersee.
Aber es mussten nicht immer Gesamtansichten sein, so zeichnete oder malte sie auch eine Berghütte auf der Seebodenalp, ein Fischerboot auf dem Vierwaldstättersee, ein Bauernhaus in Schwarzenberg oder die Teufelsbrücke im Kanton Uri. Die erhaltenen Bilder von ihrer Schweizer Reise beweisen eine genaue Beobachtungsgabe, zeugen von sicheren Farbkompositionen und zeigen eine geduldige, unaufgeregte Handschrift.
Doch die zunehmende Hitze auf der Schweizer Reise führte zur Ermüdung der übergewichtigen Monarchin. Wie schon zuvor in Grossbritannien ermattete sie auch in der Schweiz. In der Tat war es der heisseste Sommer seit Menschengedenken. Die Queen schrieb über die Hitzewelle: «Dieses Klima ist entsetzlich ... so klamm & klebrig, wenn es nicht gerade kochend heiss ist & ich werde entsetzlich müde & habe ständig Kopfschmerzen & kaum Appetit.»
Um etwas abzukühlen, reiste die Gesellschaft über den Vierwaldstättersee nach Flüelen, von dort durch das Urnerland bis ins Urserental hinauf, um auf den Furkapass zu gelangen, in die «kleine, elende Schenke, mit kleinen, ärmlichen & schlecht möblierten Räumen», wie die Königin kritisch festhielt. Victoria erlebte auf dem Furkapass Nebel und mehr Kühle, als sie sich gewünscht hatte. Sie fror! Es graupelte und schneite sogar ein bisschen.
Und plötzlich brach wieder die Sonne hervor und ermöglichte den Gästen aus England ein gewaltiges Naturschauspiel – was die Queen wiederum zu einem Aquarell inspirierte. Vollends begeistert zeigte sich die Königin vom Rhonegletscher: «Man kann kaum glauben, dass er echt ist, denn er wirkt fast wie etwas Überirdisches!» Sie setzte sich hin und malte ein extrabreites Bild der gezackten Eisbrocken. Selbstverständlich trank man auch hier den üblichen Nachmittagstee.
Geblieben von Victorias langer Regierungszeit sind nicht nur politische Hinterlassenschaften wie der Ausbau der Kolonien und die «Splendid isolation», sondern eben auch ihre Kunst. Dank ihrem künstlerischen Ausdruck und Eifer haben die Schweizer Bergansichten auf der ganzen Welt Verbreitung gefunden.