Irgendwo hab ich mal gehört, dass man, wenn man stirbt, zur Geschichte wird. Ist das nicht, so ganz entrückt und aus der Ferne betrachtet, das Allerschönste, was einem passieren kann? Du löst dich auf, verschwindest, im allerbesten Fall nach einem langen, erfüllten Leben, und was bleibt, sind die vielen kleinen Erzählungen über dich, über dein Treiben auf der Erde, deine Bemerkungen zum Leben an sich und dem der anderen, eingefasst in einen prägnanten Satz («De Reto isch scho immer en Schofseckel gsi»), verdichtet in einem Witz oder eingerührt in dein mehlfreies Schokoladenkuchen-Rezept. Und immer, wenn jemand diese Brocken gelebten Lebens wieder hervorkramt, wenn du erinnert und erzählt wirst oder ein Urenkel jenen überfetteten, braunen Todesriemen auftischt, erwachst du wieder ein bisschen zum Leben.
Und das so lange, bis dein Stammbaum ausstirbt – oder es leid wird, deine gesammelten Weisheiten und perversen Rezepte an seine Nachkommen weiterzugeben.
Ewigkeit gibt's nur für diejenigen, die ein spektakuläres Leben gelebt haben, an dem die Menschheit in keinem Jahrhundert herumkommt, oder wenn man eine Simone Meier hat. Im allerbesten Fall hat man beides zusammen, und das ist hier geschehen.
Johanna van Gogh-Bonger traf auf Simone Meier. Oder umgekehrt, wer weiss das schon so genau.
Das Einzige, was ich weiss, ist, dass das, was dabei herauskam, nämlich «Die Entflammten», ein Meisterwerk ist. Ein Buch wie ein feuerspeiender Wurfstern, der in den Menschen steckenbleiben und dort etwas anrichten wird.
Es ist die Geschichte der Frau, der «es irgendwann gelang, die ganze farbenprächtige Selbstverschwendung des Vincent van Gogh über der Welt auszuschütten». Ihn, den sensiblen, wahnsinnigen Maler, weltberühmt zu machen. Auf dass die Bilder des trinkenden und stinkenden Aussenseiters, der eines Sonntags sein Ohr und eines anderen Sonntags sein Leben hingab, heute zu den teuersten Gemälden der Welt zählen.
Es ist aber auch die Geschichte der studierenden Gina mit autistischer Streifung und einer Obsession mit blutigen Verbänden, die sich auf Jos Leben stürzt. Es ist die Geschichte eines liebenden, doch vor allem leidenden, weil erfolglosen Vaters, dessen Schriftstellertum eher ein Irrtum ist.
«[...] Ich muss zugeben, der Idiot kann schön schreiben. Nicht so, dass man aufhört zu atmen und denkt, wow, ein Genie, welche Auszeichnung, ihn zum Vater zu haben und aus seiner unnachahmlichen Substanz entstanden zu sein. Vater ist eher ein stiller Meister, einer, der auch am heissesten Tag am Meer über das Sterben von Klängen im Nebel schreibt. Und darüber, wie eine geheimnisvolle Frau in einem brombeerfarbenen Kleid den Nebel lichtet. Brombeerfarben ist wichtig. Violett oder lila wäre schon zu laut. Immer lichten Frauen bei Vater irgendwas, nur nichts Wesentliches, zum Beispiel einen Anker.»
Aus «Die Entflammten»
Allem voran aber ist es die Geschichte einer Sichtbarmachung im doppelten Sinne: Die des Ausnahmekünstlers durch Jo, und die von Jo durch Simone.
Meine Mutter sagt immer, eine Sauce müsse rund sein. Und wenn sie das nicht sei, fehle ihr noch etwas. Oder von etwas ist zu viel drin. Keine Geschmacksnote darf zu sehr hervorstechen, alles muss in sich stimmen, muss sich zusammenfügen, muss richtig sein. Meistens helfen ein paar Tropfen Worcestershiresauce.
Simone Meier ist wie Worcestershiresauce. Und ihr Buch ist nicht nur rund und richtig, es ist sogar runder und richtiger.
Weil es nicht das richtige Leben ist, sondern grosse Literatur. Sie darf über den Pfannenrand schwappen, muss es sogar, sie soll überkochen, schäumend ausufern und uns mit ihren heissen Ölspritzern die Haut verbrennen. Und das tut Simone. Mit ihrer ganzen, unvergleichlichen Sprachgewalt. Hier ist nichts schlicht. Nichts zurückhaltend. Alles ist Gefühl, ist intensiv gefühlt, und wird ohne Gnade in die Leserin hineingeätzt wie die Blümchen auf den Champagnerschalen von Ginas Grossmutter, die den Brüsten von Königin Marie-Antoinette nachempfunden sind. Oder wie die Syphilis, die sich durch Jos Ehemann Theo, durch die Prostituierte in ihrem Traum und durch so viele andere Menschen dieses Jahrhunderts frisst.
«[...] Die Frau nimmt die Maske vom Gesicht, Jo stösst einen Schrei aus, Ninettes Lippen sind weggefressen, zwischen den bloss gelegten, fauligen Zahnreihen hängt tote Haut, ihre Zunge, denkt Jo, Ninette kaut ihre eigene abgestorbene Zunge, ihre Wangen sind von Beulen bedeckt, anstelle der Nase klafft ein schwarzes Loch, und die Augenlider sind vom Eiter aufgelöst. Und dann langt sich Ninette in ihr glänzendes rotes Haar, nimmt sich die Perücke vom Kopf, und Jo sieht entsetzt, dass die Schädeldecke an mehreren Stellen offen ist, als wäre sie geschmolzen, als hätte Ninettes Kopf in Säure gelegen, und Ninette greift mit ihren Fingern in ihren Schädel hinein und streckt Jo einen Klumpen ihres Gehirns entgegen, das unter der Krankheit zu einer sülzeartigen Masse geworden ist, erst verflüssigt, dann wieder eingedickt, denkt Jo, sie hat darüber schon gelesen, aber sie hat es sich nie vorstellen können, jetzt liegt es vor ihr, ein syphilistisches Stück Gehirn, und Ninette legt ihren Kopf in den Nacken, führt ihre Hand zum Mund und schlürft genüsslich ihr eigenes Hirn.»
Aus «Die Entflammten»
Es ist eine magische Verschmelzungsgeschichte, bei der man irgendwann nicht mehr weiss, wo hört jetzt Jo auf und wo fängt man selbst an. Es ist ein gigantischer Gefühlstopf, den Simone hier angerührt hat, Generationen von Frauenseelen mischt sie da rein, es ist kitschig, heillos romantisch, traurig und schaurig, zum Heulen und wieder wunderschön, ein Strudel, in den man vom ersten Satz weg hineingesogen wird und aus dem man nicht herauskommt, bis einem der letzte Satz wieder ausspuckt, nachdem man in den tiefsten Gedärmen dieses Romans zermalmt worden ist.
Und in dieser ganzen Zermalmtheit bleibt letztlich das kleine, warme Gefühl zurück, dass diese Geschichte jetzt endlich in der Welt ist. Und dass sie richtiger und runder erzählt worden ist. Was am Ende fast immer heisst, dass irgendwo eine Frau ausgegraben werden musste. In diesem Fall Jo. Denn ohne Jo kein van Gogh.
Und ohne Simone Meier keine «Entflammten». Also lasst euch selbst entflammen von dieser allerwunderbarsten Notwendigkeit, nennt es Feuersbrunst, nennt es Kunst, nennt es feministische Reconquista, nennt es Familienroman mit unvorteilhafter Vaterfigur, nennt es, wie ihr wollt, aber lest die Geschichte. Lasst euch zermalmen. Und erzählt davon.
Macht sie unsterblich.
PS: Simone, ich platze vor Stolz. Du hast es geschafft. <3