Herr Ruch, Sie sind Deutschlands meistgefürchteter Kunst-Aktivist. In der Schweiz kennt man Sie durch eine gescheiterte Aktion: 2016 wollte Ihr Theaterkollektiv Roger Köppel von der angeblichen Besessenheit durch einen fremdenfeindlichen Geist exorzieren. Würden Sie das nochmals machen?
Philipp Ruch: Nein, wir müssten effektiver werden. Wir haben damals der Politik geglaubt und uns an deren Spielregeln gehalten: Sie meinten, unsere Prozession zu Köppels Haus dürfe die Stadtgrenze von Zürich nicht überschreiten. Trotzdem wurden dem gastgebenden Theater Neumarkt dann 50'000 Franken Subvention gestrichen. Der Exorzismus von der Stadtgrenze aus ist spektakulär gescheitert. Heute würden wir der Politik nicht mehr glauben und direkt vor sein Haus ziehen. Köppels NS-Anbetung ist ein Skandal und muss endlich exorziert werden.
Effektiver sind Sie mit Ihrem neuesten Buch «Es ist 5 vor 1933». Es steht seit sieben Wochen auf Platz 5 der «Spiegel»-Bestsellerliste. Was vorher allerdings noch Witz an Ihren Aktionen hatte, ist nun teilweise einer Kriegsrhetorik gewichen.
Das liegt daran, dass in Deutschland eine Partei offen den Bürgerkrieg fordert und vorbereitet. Vorlage für mein Buch war Stefan Zweigs «Die Welt von gestern. Erinnerung eines Europäers». Ich wollte eine Fortsetzung davon schreiben, «Die Welt von Heute» ...
Sie beschreiben das Jahr 2029, wenn mit der Machtübernahme der AfD ein Bürgerkrieg ausbricht und Deutschland ins «blutige Mittelalter» zurückfällt. Mit Macheten, Knüppeln, Beilen geht man gegen alles Fremde vor.
Ja, so geschah es in Ruanda. Das Regime importierte damals Millionen von Macheten, damit der Westen sich angewidert von dem vermeintlichen Steinzeitgeschehen abwenden konnte. Was hat die AfD mit Deutschland vor? Sehen wir die Gefahr? Der deutsche Rechtsextremismus macht keine halben Sachen. In den kommenden fünf Jahren entscheidet sich, wie Deutschlands Zukunft aussieht. Mein Buch ist eine Art Guckloch. Die AfD konnte in zwei Bundesländern über 30 Prozent holen. Auch die Schweiz muss jetzt aufwachen.
Der Bestseller nimmt die Terminologie der Faschisten auf, weigert sich aber, nach der Ursache der Attraktivität des Rechtsextremismus zu fragen. Sie bedienen, wie die AfD, die Ängste der Menschen. Sind Sie ein Trittbrettfahrer?
Ich würde sogar noch weitergehen und sagen: Wir können gar nicht genug Angst vor den Gefahren und dem Potenzial des deutschen Rechtsextremismus machen. Er hat historisch betrachtet den Holocaust verübt. Die AfD wäre heute sogar zu dumm, nicht auch die Schweiz anzugreifen. Viele lachen über diese Szenarien. Aber das war beim Aufstieg der NSDAP nicht anders. Was die rechtsextremen deutschen Politiker derzeit von sich geben, klingt obszön und vulgär. Aber statt uns abzuwenden, müssen wir jetzt hinschauen, bevor es zu spät ist.
Viele bezeichnen Ihre Kampfschrift als Buch der Stunde und «geistige Waffe», andere lesen sie als Zeichen von Philipp Ruchs Ratlosigkeit.
Ich bin nicht ratlos, ich bin entschieden. Die deutschen Soziologen erklären derzeit, dass die Zustimmung zur AfD aus einem Gefühl des Abgehängtseins herrühre. Das stimmt einfach nicht. Ich beobachte die AfD seit elf Jahren und kenne ihre Geschichte, genauso wie die Geschichte der NSDAP von 1928 bis 1933. Wir verstehen den Kern des Problems nicht: Es geht hier um die Attraktivität des Faschismus. Faschismus ist sexy. Er hat Sex-Appeal! Die Frage nach den Ursachen ist wichtig. Der NSDAP gelang es, genauso wie der AfD von heute, ein Gefühl der Selbstwirksamkeit bei ihren Wählern und Wählerinnen zu erzeugen. Die Menschen sind vom Faschismus begeistert.
In der Schweiz hat man die SVP in die Regierungsverantwortung eingebunden. Der Bürger, die Bürgerin sollte selbst erkennen, was die Wahlversprechen der Partei taugen. Aus hiesiger Sicht ist Ihre Forderung nach einem Verbot der Partei zutiefst undemokratisch.
Diese Strategie wurde ja versucht. Franz von Papen glaubte, Hitler mit dem Reichskanzleramt domestizieren zu können. Aus der Einkeilungsstrategie hat die NSDAP sich überraschend schnell befreit. Faschismus lässt sich nicht binden, durch Verantwortung wird er auch nicht handzahm. Und der deutsche Rechtsextremismus ist im Wesenskern etwas ganz anderes als der Populismus der SVP. Christoph Blocher ist kein militanter Neonazi. Er sammelt seine antiquierten Ölgemälde und ist doch etwas gebildeter und interessierter. Obwohl ich hier ganz bestimmt kein Hohelied auf Christoph Blocher singen will.
Das klingt nun doch etwas herablassend: Die Deutschen wählen AfD, weil sie ungebildeter als Schweizer sind?
Ich habe sehr lange in beiden Ländern gelebt. Mir scheint der politische Bildungsgrad in der Schweiz ein ganz anderer zu sein. Auch das Verantwortungsgefühl. Die Menschen in der Schweiz sind durch und durch liberal und demokratisch eingestellt. Wir haben in Deutschland Parteivorsitzende, vor denen der Staat selbst warnt, sie seien «gesichert rechtsextrem». Wo gibt es das denn? Der Staat warnt schon seine eigene Bevölkerung vor dem Extremismus derer, die bald die Regierung stellen.
Wo liegen die Gründe für die Unterschiede zwischen dem Schweizer Populismus und den deutschen Rechten?
Der SVP-Populismus ist nicht exterminatorisch. Wir haben hier eine über Jahrhunderte eingeübte demokratische Praxis und viel Erfahrung mit direkter Demokratie. In der Schweiz wird tatsächlich darüber abgestimmt, ob man mehr Ferien will. Und das Ergebnis ist ein überwältigendes Nein! Das dürfte nicht in vielen Ländern der Welt dabei herauskommen. Deutschlands militante Rechtsextreme sind auf Vernichtung aus. Interessanterweise sind viele von ihnen in die Schweiz ausgewandert. Einige der Wichtigsten operieren von der Schweiz aus, darunter Alice Weidel.
Sie bezeichnen Faschismus als sexy. Sind deutsche Rechtsextreme Adrenalinjunkies? Spielt die Faszination des Bösen?
Ich glaube, dass es um politische Ohnmachtsgefühle geht. Wenn man, wie in Deutschland, keine Partizipation anbieten kann, fühlen sich viele schnell ohnmächtig. Die AfD tritt mit Parolen wie «Rette dein Land!» an: Du kannst dein Land retten. Bis in die kleinsten Instagram-Posts wird das Gefühl einer omnipräsenten Selbstwirksamkeit vermittelt. Die Menschen werden eingeseift. Genauso war es bei der NSDAP im Schicksalsjahr 1932. Diese Art von Motivation spielt bei Hitlers vielen Reden mit: Hitler wäre heute Influencer auf Instagram.
Sie sind ein Politaktivist mit Schweizer Wurzeln. Kein deutscher Intellektueller prangert den Rechtsextremismus so lautstark an wie Sie. Sagt das vielleicht mehr aus über Sie als über den Gegenstand Ihres Kampfes?
Ich hatte in Bern Geschichtsunterricht, bei einem fantastischen Geschichtslehrer. Da haben wir damals alle geschworen: Nie wieder! Dann kam ich nach Deutschland und stellte fest: Die haben das alle gar nie geschworen. Ich hatte das grosse Glück, in der Schweiz in einer Zeit gross zu werden, als das Land so gut wie alle mit Kosmopolitismus infizierte. Es ist nicht von ungefähr, dass Milo Rau, Rimini-Protokoll oder Philipp Ruch ausgerechnet in Deutschland die Kulturszene revolutioniert haben mit einem kosmopolitischen Verständnis, was Kunst und Kultur für eine Gesellschaft bedeuten können.
Ob für Sie diese Liebeserklärung an die Schweiz auch gelten würde, wenn Sie hier leben würden, muss offen bleiben.
Ich sage ja, ich habe in meiner Kindheit und Jugend die beste Schweiz kennengelernt: ein kosmopolitisches und stark engagiertes Land, das nicht auf sich selbst fixiert war. Milo Rau und alle anderen tragen diesen Kern zurück nach Deutschland und zerstören die deutsche Nabelschau. Wir haben in Deutschland für eine Infusion der Welt gesorgt.
Noch ein Blick auf den Sonntag, wenn nach Sachsen und Thüringen nun noch Brandenburg wählt. Wird die AfD auch dort gewinnen?
Sie könnte wieder stärkste Partei werden. Dann hat sie in drei Bundesländern 30 Prozent der Stimmen geholt. Ich weiss nicht, was wir noch brauchen, um endlich aufzuwachen. Die AfD will an die Macht. Das ist kein Spiel. Es geht um unser aller Überleben. Die Schweiz wird ökonomisch und militärisch untergehen, wenn die AfD an der Macht ist.
Buchtipp:
(aargauerzeitung.ch)
Jedes mal wenn ich Scholz sehe und höre, verstehe ich, dass ein grosser Teil Deutschlands unzufrieden mit der Regierung ist.
Dass die AfD keine Lösung für Deutschland ist, liegt auch auf der Hand.
Normalität ist momentan ein geringes Gut auf unserem Planeten.