Praktisch alle Medikamente haben erhebliche Nebenwirkungen, selbst rezeptfreie und breit eingesetzte: Schlafmittel können Herzprobleme und Schwindel verursachen, Nasensprays abhängig machen, Blutverdünner erhöhen das Risiko für innere Blutungen, die Verhütungspille für depressive Verstimmungen.
Doch es gibt auch Medikamente, bei denen die positiven Nebenwirkungen überwiegen. Nicht nur die neuen und teuren Fett-Weg-Spritzen haben eine Menge willkommener Begleiterscheinungen. Nein, auch ein sehr altes Medikament gehört dazu – das bislang wohl vor allem aber nur Diabetikerinnen und Diabetiker kennen.
Es ist das Medikament mit dem Namen Metformin, das weltweit am häufigsten verschriebene Medikament zur Behandlung von Diabetes Typ 2. Auch in der Schweiz zählt das seit den 1950er-Jahren eingesetzte Mittel neben Paracetamol und Aspirin zu den meistbezogenen Wirkstoffen. Gefährliche Nebenwirkungen kommen sehr selten vor und es ist spottbillig. Eine Pille kostet in der Apotheke lediglich ein paar Rappen.
Seit einiger Zeit wächst die Liste der Krankheiten und Leiden, gegen die der Diabetes-Klassiker ebenfalls noch wirken soll. Forscher beobachteten einst, dass Diabetiker, die Metformin einnehmen, viel seltener an Demenz und Krebs erkrankten als Diabetiker, die andere Medikamente schlucken. Und wenn sie Krebs bekamen, überlebten sie in der Regel länger.
«Metformin hat vielleicht schon mehr Menschen vor dem Krebstod bewahrt als jedes andere Medikament in der Geschichte», soll Lewis Cantley einmal gesagt haben, ein US-amerikanischer Molekularbiologe und Biochemiker, der führend ist auf dem Gebiet der Krebssignalübertragung. Und der heute 96-jährige Nobelpreisträger James Watson, der die Doppelhelix-Struktur für die DNA postuliert hatte, nimmt Metformin offenbar zur Krebsprävention ein.
Das Medikament scheint auch das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall zu senken sowie das Risiko, an Long Covid zu erkranken. Es könnte ausserdem gegen eine Fettleber helfen, die Fettstoffwechselregulation verbessern und sogar ein längeres Leben ermöglichen.
Schon heute schlucken deshalb einige Longevity-Enthusiasten prophylaktisch Metformin-Pillen, unter ihnen der Langlebigkeitspapst Bryan Johnson. Aber auch seriöse Wissenschafter geben zu, Metformin einzunehmen oder mindestens mit dem Gedanken zu spielen.
«Metformin ist eines der spannendsten Medikamente, sowohl molekular als auch klinisch», sagt Marc Donath, ehemaliger Chefarzt am Universitätsspital Basel und gewählter Direktor des Diabeteszentrums am Universitätsspital Montreal (Kanada). Auf die Frage, ob er es denn ebenfalls einnehme, schüttelt er den Kopf und lacht. Nein, nein, das tue er nicht. Aber Risikopersonen, zum Beispiel stark übergewichtige Patienten, die einen Diabetes entwickeln könnten, könnten das Medikament prinzipiell guten Gewissens einnehmen.
Der Wirkmechanismus von Metformin ist komplex. Das Medikament hemmt zum Beispiel die Neubildung von Glukose in der Leber, es verzögert die Glukoseaufnahme im Darm und bewirkt, dass Zellen stärker auf Insulin ansprechen. Marc Donath formuliert es so: «Metformin setzt den gesamten Stoffwechsel auf Sparflamme. Bei übergewichtigen Menschen ist dieser überaktiviert.» Diese Überaktivierung löst entzündliche Reaktionen aus, die dann zu den vielen möglichen Folgeerkrankungen von Übergewicht und Adipositas führen – Diabetes, Herz-Kreislauf, Krebs, Demenz und so weiter.
Losgetreten werden diese Entzündungen in den Mitochondrien, den Kraftwerken der Zellen, genauer gesagt im mitochondrialen Komplex I, einem riesigen Protein-Komplex im Inneren der Mitochondrien. In einer soeben erschienenen Studie im Fachblatt «Science Advances» hat ein Team um den US-Biochemiker Navdeep Chandel erstmals im Tiermodell gezeigt, dass und wie Metformin diesen Komplex hemmt. «Diese Studie hat den Wirkmechanismus auf molekularer Ebene nun eindeutig belegt», sagt Marc Donath.
Was allerdings nach wie vor noch fehlt, sind Studien, welche die positiven Wirkungen von Metformin – zum Beispiel die Krebsprävention oder ein längeres Leben – am Menschen beweisen. Das Problem: Geld für solche Studien aufzutreiben, ist schwierig, weil Pharmafirmen kaum daran interessiert sind, weil das Patent von Metformin längst abgelaufen ist.
Mit diesen Schwierigkeiten hat auch die sogenannte TAME-Studie zu kämpfen, welche die Longevity-Community mit Spannung erwartet. Falls die Studie zustande kommt, soll in deren Rahmen erstmals ein Medikament – Metformin in diesem Fall – gegen das Altern beim Menschen erprobt werden.
Während sechs Jahren soll an über dreitausend Teilnehmerinnen und Teilnehmern zwischen 65 bis 79 Jahren untersucht werden, ob diejenigen, die Metformin einnehmen, seltener altersbedingte chronische Krankheiten entwickeln als die Kontrollgruppe. Ziel ist, den Nachweis zu erbringen, dass Altern eben kein natürlicher und unausweichlicher Prozess ist, sondern dass es eine Pille gegen das Altern gibt wie gegen unzählige andere «klassische» Krankheiten. Noch ist die Studie allerdings nicht gestartet, die Fundraising-Bemühungen liefen noch, heisst es auf Anfrage bei der American Federation for Aging Research, welche die Studie durchführen will.
Marc Donath geht allerdings nicht davon aus, dass Metformin dereinst für andere Krankheiten als Diabetes, geschweige denn als eine «Pille für alles» zugelassen wird. Diese Hoffnung würde derzeit vor allem vom «amerikanischen Wahn vom längeren Leben befeuert», sagt er. Denn: «Die Effekte sind viel zu klein, als dass Metformin eine Revolution sein könnte.» Und: Gerade bei gesunden und sporttreibenden Personen hat Metformin einen ungünstigen Nebeneffekt. Studien zeigen nämlich, dass das Medikament Trainingseffekte bezüglich Kondition zunichtemachen könnte.
Ein grösseres Potenzial wird denn auch anderen Wirkstoffen nachgesagt, die seit einiger Zeit mächtig Schlagzeilen machen: die GLP-1-Agonisten, die sich in den Diabetes- und Adipositasmitteln Wegovy und Ozempic finden. Sie versprechen ebenfalls Heilung gegen die grössten Volksleiden: gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, gegen neurodegenerative Erkrankungen, Suchterkrankungen, Unfruchtbarkeit, das polyzystische Ovarialsyndrom, Schlafapnoe. «Es ist wie ein Schneeball, der sich in eine Lawine verwandelt hat», sagte die Gesundheitsökonomin Lindsay Allen gegenüber der «New York Times».
«Sowohl bei Metformin als auch bei den GLP-1-Analoga ist der Gewichtsverlust für die Präventivwirkung verantwortlich», sagt Marc Donath. Für ihn ist deshalb auch klar, welche Massnahme am vielversprechendsten ist – ganz ohne Nebenwirkungen: «Gegen einen gesunden Lebensstil mit ausgewogener Ernährung und Sport kommt keine Pille der Welt an.»
Wenn ich 96 werde, fange ich wieder an zu rauchen.
Vermutlich kostet das Päckli dann 160 Franken und meine AHV reicht dafür nicht.