Die Flüchtlinge, die sich in der 60 000-Seelen-Stadt Bihać im äussersten Nordwesten Bosniens den Sommer über unter Bäumen vor der drückenden Hitze versteckten, sind fast aus dem Stadtbild verschwunden.
Sie haben sich zurückgezogen in die notdürftigen Zeltlager in den Wäldern und auf den Feldern der Gegend. Die Hitze drückt nicht mehr, dafür schleicht sich die Kälte nachts durch die dünnen Plastikwände.
Hier im zentralen Balkan spielt sich ein Flüchtlingsdrama ab, das von der Weltöffentlichkeit bislang unbeachtet blieb. Anders als die Dramen auf dem Mittelmeer und die Stürmung der spanischen Enklaven in Nordafrika haben die Flüchtlinge, die auf dem Weg durch den Balkan in Bosnien hängen geblieben sind, kaum für Schlagzeilen gesorgt.
Bald aber könnte sich das ändern. Wenn der Winter anbricht und die ersten Menschen hier erfrieren, dann wird das Versagen der bosnischen Regierung und letztlich auch der Europäischen Union im vollen Ausmass klar werden.
Das zumindest prophezeit die Vereinigung «Souls of Sarajevo», die mit privaten Spendengeldern versucht, die vergessenen Flüchtlinge im bosnischen Norden zu unterstützen. Seit Monaten schliefen Tausende Menschen draussen, praktisch ohne medizinische Versorgung, gänzlich ohne Hoffnung auf Besserung, schreibt «Souls of Sarajevo».
Die Behörden täten nichts, ausser sich gegenseitig den schwarzen Peter zuzuschieben. Einen Antrag auf Asyl könnten die Flüchtlinge nicht stellen, solange sie keine feste Wohnadresse angeben könnten. Und Zelte im Wald haben keine Adresse.
Auch der Bremgarter Lehrer Stefan Dietrich (44), der als Vertreter des Projekts «Help Now» kürzlich in Bosnien unterwegs war und Schlafsäcke und Hilfsgüter unter den Flüchtlingen verteilt hat, schlägt Alarm. «Die Menschen sind frustriert und gehen aufeinander los. Bei den Zusammenstössen gab es mehrfach Verletzte und mindestens einen Toten.»
Gleichzeitig nähmen auch die Spannungen zwischen den Flüchtlingen und der lokalen Bevölkerung zu. Es komme zu Einbrüchen und Diebstählen, die hygienische Situation in den improvisierten Lagern werde von Tag zu Tag schlimmer. «Während unserer Hilfsaktion kam ein 19-jähriger Mann ums Leben. Er starb an Infektionen, Lungenentzündung und Meningitis.»
Von Bihać aus ist die kroatische Grenze und damit die Verheissung der Europäischen Union nur wenige Kilometer entfernt. Viele der Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und Pakistan versuchten immer wieder, über die Grenze zu gelangen. Das Investigativ-Portal «Balkan Insight» berichtet von regelmässigen Misshandlungen der Flüchtlinge durch die kroatische Grenzpolizei. Sie würden ausgeraubt, verprügelt und zurück nach Bosnien geschickt.
Offizielle Zahlen zu den Flüchtlingen in Bosnien gibt es nicht. «Balkan Insight» geht von rund 7000 Menschen aus, die derzeit in den bosnischen Lagern verharren. Auf baldige Unterstützung durch die Politik dürfen sie nicht hoffen.
In Bosnien stehen im Oktober Wahlen an, was die Situation für die Flüchtlinge zusätzlich verschlimmert, wie Stefan Dietrich betont. «Gewisse Politiker schüren bewusst Ängste, dass Bosnien-Herzegowina eine Sackgasse für Flüchtlinge und Migranten sei und sie im Land bleiben würden.»
Aus Sicht vieler Politiker sei das nicht nur aus ökonomischen Gründen verheerend, sondern auch aus kulturellen. «Politische Vertreter aus den serbisch-dominierten Gebieten Bosniens und kroatische Politiker aus der Region Herzegowina unterstellten der bosniakisch-muslimischen Seite, bewusst muslimische Migranten nach Bosnien zu holen, um die Bevölkerungsstruktur zu verändern», erklärt Dietrich.
Die Medien würden über Messerstechereien und Einbrüche berichten. Externe Beobachter wie etwa die Journalisten der slowenischen Zeitung «Delo» schreiben bereits vom «neuen Idomeni».
Tragisch ist in den Augen Dietrichs auch die Rolle der EU. «Es scheint, als wolle sie die kritische Situation aufrechterhalten und weitere Tote an der Grenze riskieren.» Abschreckung statt Unterstützung, Sterben lassen statt Leben retten. Staatliche Akteure müssten zwingend aktiv werden, und zwar noch vor dem baldigen Wintereinbruch, sagt Dietrich.
Er selber will mit «Help Now» spätestens in der Weihnachtszeit wieder nach Bosnien reisen – in der Hoffnung, dass es für die jetzt schon bibbernden Menschen in den bosnischen Wäldern dann noch nicht zu spät ist. (aargauerzeitung.ch)