Seit Monaten wird davor gewarnt, nun scheinen alle Zeichen auf Krieg zu stehen.
Die Ankündigung Russlands, die beiden Regionen Luhansk und Donezk im Osten der Ukraine als unabhängige «Volksrepubliken» anzuerkennen, werten viele Experten als endgültigen Bruch mit dem Minsker Abkommen, das 2015 von Deutschland, Frankreich, der Ukraine und Russland ausgehandelt wurde.
Das Abkommen gehörte zu den besten Waffen Russlands, um die internationale Ausrichtung der Ukraine mitzubestimmen. Dass man diese Möglichkeit nun selbst zerstört hat, deutet darauf hin, dass Russland auf eine grössere Lösung setzt. Auf eine militärische Lösung.
Doch wie könnte sich eine militärische Auseinandersetzung konkret abspielen? watson hat gemeinsam mit dem Sicherheitsexperten Niklas Masuhr vom «Center for Security Studies» an der ETH Zürich drei mögliche Szenarien ausgearbeitet, die bereits von anderen Experten in ähnlicher Form diskutiert wurden.
Das erste Szenario ist zugleich auch das unwahrscheinlichste, wie Masuhr betont. Es ist quasi die Fortsetzung der Taktik der letzten acht Jahre, mit dem Ziel der dauerhaften Destabilisierung der Ukraine. Diese wird durch sporadische Nadelstiche erreicht, also die Annexion der Krim, die Unterstützung der Separatisten, die Anerkennung der Unabhängigkeit der Oblasten Donezk und Luhansk, aber auch durch Cyberangriffe, wie sie die Ukraine in den letzten Jahren vermehrt trafen.
«Für diese Taktik muss man aber nicht 75 Prozent der Bodentruppen und 50 Prozent der Luftwaffe an der Grenze zur Ukraine halten», sagt Sicherheitsexperte Masuhr. Die aktuelle Positionierung der russischen Bodentruppen sei zudem nicht nachhaltig. In diesen Bereitschaftsräumen lasse es sich Tage oder maximal Wochen aushalten, aber nicht Monate. «Soldaten schlafen quasi auf und in ihren Transportern. Das kann man nicht allzu lange aufrechterhalten.»
Ein weiterer Grund, der gegen dieses Szenario spricht, ist die faktische Kündigung des Minsker Abkommens durch Russland. «Das Abkommen war eines der besten Instrumente, um in dieser «hybriden» Destabilisierung auch politisch Druck auf die Ukraine auszuüben», sagt Masuhr. Sollte Moskau in den nächsten Tagen nicht militärisch eskalieren, würde dieses Szenario naturgemäss weiterhin anhalten, «aber aktuell gibt es keine Anzeichen auf einen Abzug.»
Eine militärische Eskalation sei also nach wie vor ein nicht unwahrscheinliches Szenario. Die Frage sei bloss, wie weit Russland gehen will.
Szenario 2 stellt dementsprechend die Vorstufe zu Szenario 3 dar. Sozusagen der militärische Mittelweg. Jener, der für Russland wohl am attraktivsten wäre, da er politisch weniger heikel, schneller und kostengünstiger wäre.
«Der Schwerpunkt einer solchen Offensive würde im Donbass liegen, nicht nur der Kontaktlinie entlang, sondern in den gesamten Oblasten Donezk und Luhansk», sagt Niklas Masuhr. Möglicherweise werde es bereits heute oder in den nächsten Tagen zu absichtlichen Spannungen an der Kontaktlinie kommen, wie Russland in den vergangenen Tagen bereits demonstriert hat. Damit könnten die ukrainischen Kräfte vor Ort gebunden wären. «Und dann könnte es zu Vorstössen aus dem Norden und Nordosten kommen, aus den Richtungen Jelnja und Belgorod, von Norden nach Süden, um zu verhindern, dass die ukrainischen Truppen sich hinter den Dnepr oder nach Kiew zurückziehen können. Es würde sich also um den Versuch einer Einkreisung im Osten des Landes handeln.»
Russland verfügt zudem in Belarus und auf der Krim leichtere, flexiblere Verbände, die tief in die Westukraine vorstossen könnten; konkret sind dies Luftlandetruppen und, vom Schwarzen Meer aus, Einheiten der Marieninfanterie. Ausgemacht ist wohl, dass das russische Militär nach Möglichkeit Städtekämpfe verhindern will, welche das Potenzial für festgefahrene Konflikte und höhere zivile Opfer drastisch erhöhen würden.
Masuhr rechnet deswegen damit, dass Russland eine Entscheidungsschlacht im Donbass, oder zumindest östlich des Dnepr, anstrebt. «Die russische Regierung dürfte darauf abzielen, mit einem möglichst ‹sauberen› militärischen Sieg ausserhalb der Städte die Ukraine so weit in die Knie zu zwingen, dass sich der politische Status Quo verschieben lässt.» Das könnte zum Beispiel durch hohe ukrainische Verluste geschehen, «dafür muss Kiew nicht unbedingt eingenommen werden».
Würde Szenario 2 nicht zu einem Umsturz der Regierung (beziehungsweise den primären Zielen Moskaus) führen, könnte Russland noch einen Schritt weitergehen. Auch westlich des Dnepr, in Belarus, stehen russische Truppen. Masuhr ist zwar der Ansicht, dass der Fokus nicht im Westen liege. Je nach Verlauf könnte sich Putin aber gezwungen sehen, zu den mechanisierten Truppen in Belarus zu greifen.
«Es ist möglich, dass Truppen von Nordwesten her in die Ukraine einmarschieren und sich in Richtung Kiew vorkämpfen.» Die mechanisierten Truppen in Belarus könnten aber auch stationär bleiben, als Abschreckung gegenüber Polen, dem Baltikum und dementsprechend auch der Nato.
Stellt sich die Frage, was Russland eigentlich will. Den Osten der Ukraine langfristig zu besetzen, wäre auch für Russland nur schwierig zu bewerkstelligen. Auch unter Analysten sei man sich hier nicht einig, meint Masuhr. «Meine Interpretation des russischen Militärs ist, dass es alles zu möglichst geringen Kosten machen will. Das würde einer Besetzung tendenziell widersprechen. Es kann aber durchaus sein, dass man es sich in Moskau zutraut, Gebiete längerfristig zu kontrollieren.» Grundsätzlich würden militärische Operationen selten perfekt nach Plan laufen und auch das russische Militär könne sich verkalkulieren.
Zu welchem Szenario es letztlich kommt, hängt auch davon ab, wie gut sich die ukrainische Armee zur Wehr setzen kann. Eine weitere grosse Unbekannte. «Die Ukraine hat ihre Fähigkeiten seit 2014 deutlich ausgebaut. Gleichzeitig sind viele der Truppen, die seit 2014 rekrutiert und ausgebildet worden sind, verhältnismässig unerfahren, trotz des anhaltenden Krieges im Osten», sagt Niklas Masuhr. Das russische Militär sei definitiv erfahrener. Auch habe es technische und geografische Vorteile.
«Hierbei muss jedoch angemerkt werden, dass sich die Entfaltung eines Krieges nur schwer voraussagen lässt. Auf dem Papier ist die russische Armee stark überlegen, aber es gibt zu viele Unbekannte.» Auch das Wetter könnte unter Umständen einen Einfluss haben. So könnten aufgetaute Böden und Matsch die russische Logistikkette erheblich beeinträchtigen, zumindest wenn sich ein Kampfeinsatz als länger oder komplexer herausstellen sollte.
Eine militärische Eskalation würde für Russland in jedem Fall grosse monetäre und politische Hürden bedeuten. Wieso nimmt Putin das alles überhaupt in Kauf?
«Wenn es so etwas wie ein übergeordnetes Ziel geben würde, dann wäre es der Wunsch Russlands, die Zeit zurückdrehen zu können», sagt Sicherheitsexperte Masuhr. «Was an der gestrigen Rede Putins stark auffiel, war seine Sicht auf ehemalige Mitglieder der Sowjetunion.» Putin scheine eine eher imperiale Sichtweise zu haben. Er spreche insbesondere der Ukraine also nicht nur ihre politische Eigenständigkeit ab, sondern auch ihre kulturelle. «Das entspricht eher einer zaristisch-russischen Perspektive als einer sowjetischen. Es suggeriert also mehr der Wunsch nach einem Grossrussland als einer Retro-Sowjetunion.»
Russland macht derzeit den Anschein, als würde es sich nicht von den Drohungen der Weltgemeinschaft einschüchtern lassen. Einen militärischen Konflikt zwischen der Nato und Russland dürften zudem beide Seiten auf jeden Fall verhindern wollen. Wie also sollte der Westen und der Rest der Welt mit Russland umgehen?
«Die Nato muss signalisieren, dass Polen und das Baltikum geschützt werden. Gleichzeitig muss das Eskalationsrisiko zwischen der Nato und Russland gering gehalten werden», sagt Masuhr.
Gegenüber Sanktionen ist der Russlandexperte eher skeptisch. Die Qualität der Sanktionen würde zwar sicherlich zunehmen. «So könnte man sich in London zum Beispiel um russisches Schwarzgeld kümmern». Das sei vor einigen Monaten noch undenkbar gewesen. Wo die russische Schmerzgrenze liegt, sei letztlich schwer zu sagen. «Ich glaube nicht, dass Sanktionen alleine den Kurs drehen können.»
Mittel- und langfristig müsse man sich in Europa wohl über eine starke Erhöhung seines militärischen Potenzials Gedanken machen, sagt Masuhr. Das alte Europa werde nicht zurückkommen, dafür sei es jetzt schon zu spät: