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Studie: So verzerrt sind die Opferzahlen im Ukraine-Krieg

Studie mit Schweizer Beteiligung zeigt: So verzerrt sind die Opferzahlen im Ukraine-Krieg

15.08.2023, 21:5915.08.2023, 21:59
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Russland unterschätzt laut einer Studie die Verluste von eigenen Soldaten im Krieg gegen die Ukraine deutlich. Wie ein internationales Forschungsteam mit Schweizer Beteiligung zeigte, starben im ersten Jahr des Ukraine-Krieges fast fünf Mal mehr Russen als Ukrainer.

Svitlana Sushko, 62, sobs while visiting the grave of her youngest son, a Ukrainian soldier who was killed last year in the war against Russia, in Kyiv, Ukraine, Thursday, Aug. 3, 2023. (AP Photo/Jae  ...
Eine ukrainische Mutter trauert nach dem Tod ihres Sohnes.Bild: keystone

«Wir haben versucht, von den begrenzten Informationen die es gibt, die korrekten Zahlen zu schätzen», sagte Niklas Stoehr von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich (ETH Zürich) am Dienstag auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Er ist spezialisiert darauf, schwer messbare Dinge statistisch zu erfassen.

In Zusammenarbeit mit Forschenden der University of North Carolina und der University of Chicago in den USA hat der Informatiker ein Modell entwickelt, das Verluste während Konflikten schätzen kann. Es basiert auf der sogenannten bayesschen Statistik. Die Ergebnisse des wurden in der neusten Ausgabe des Fachblatts «Pnas Political Science» veröffentlicht. «Länder oder politische Akteure, die in Konflikte verwickelt sind, haben Anreize, diese Zahlen zu verbergen oder zu manipulieren, während Dritte möglicherweise keinen Zugang zu zuverlässigen Informationen haben», hiess es in der Studie.

March 21, 2023, Saint Petersburg, Saint Petersburg, Russia: Grave in the Beloostrovsky cemetery of Dmitry Menshikov, a criminal inmate recruited in a russian jail by the Wagner group as mercenary in t ...
Ein Grab eines Wagner-Söldners in St. Petersburg.Bild: www.imago-images.de

Überschätzen Verluste der Gegenseite

Angewandt auf das erste Jahr des Russischen Angriffskrieges in der Ukraine sind laut Schätzung des Modells rund 76'700 russische und rund 17'200 ukrainische Militärangehörige im Krieg getötet worden. Für jeden toten Militärangehörigen in Russland meldeten russische Quellen nur 0.3 Verluste, wie es in der Studie hiess. Für jeden getöteten Ukrainischen Militärangehörigen meldeten russische Quellen hingegen 4.3 Verluste.

Auch ukrainische Quellen überschätzen laut der Statistik die Toten der Gegenseite, sie gaben knapp doppelt so viele Tote an wie die Schätzung des neuen Programms. Für eine systematische Verzerrung in ukrainischen Berichten über ukrainische militärische Todesfälle fanden die Autorinnen und Autoren hingegen keine Hinweise.

Komplexe Statistik

Die Forscherinnen und Forscher verwendet für ihr Modell öffentlich zugängliche Daten. Insgesamt verarbeiteten sie 4609 Berichte zu zivilen Opfern und gefallene Soldaten auf sozialen Medien, in Nachrichten und von verschiedenen staatlichen Quellen. In den verschiedenen Berichten wurden dabei Zahlen von täglichen, sowie von kumulativen Verlusten genannt. «Diese stimmen teilweise im gleichen Medium nicht überein», erklärte Stoehr. «Zwischen den verschiedenen Quellen gibt es erst recht keine Übereinstimmung.»

Comforted by Khrystyna Liubymska, top, Zynaida Nedoleshko weeps next to a casket carrying the remains of her nephew, Roman Shadlovskyi, during a reburial service for him in Bucha, Ukraine, Tuesday, Ju ...
Tränen bei einer Beerdigung im Kiewer Vorort Butscha.Bild: keystone

Das Modell interpoliert Verlustzahlen verschiedener Quellen und berechnet aus diesen Zahlen, auf Basis verschiedener transparenter Annahmen, einen Mittelwert. Als Inspiration diente den Forschenden dazu das sogenannte «German tank problem». Ein bekanntes statistisches Problem, das während des Zweiten Weltkriegs von den Alliierten entwickelt wurde, um die Anzahl der deutschen Panzer zu schätzen.

«Statistik über schreckliche Dinge»

Wie viele Tote es wirklich gab, werde man wohl nie genau wissen, sagte Stoehr. Die Schätzung des Modells korrigiere aber bestimmte Motivationen von den verschiedenen Parteien. Anwendbar sei das Modell ausserdem auch in anderen Szenarien, in denen verschiedene Parteien ein natürliches Interesse haben, Zahlen zu fälschen und kumulative und absolute Werte nicht zwingend konsistent sind. Man könnte damit etwa die Infektionszahlen einer Pandemie untersuchen, erklärte der Wissenschaftler.

Stoehr hofft, dass die Schätzungen mehr Transparenz schaffen, wie er im Gespräch mit Keystone-SDA sagte. «Wir sitzen hier in der sicheren Schweiz und machen statistische Auswertungen über schreckliche Dinge. Da macht man sich schon Gedanken», sagte der Forscher.

(dab/sda)

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27 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Mupfele
16.08.2023 05:20registriert August 2020
Was heisst hier „unterschätzen“ oder „überschätzen“? Das russische Regime lügt ganz einfach! Diese menschenverachtende Diktatur kennen die tatsächlichen Zahlen ganz genau.
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Pupsomat
15.08.2023 23:33registriert Juli 2021
Die Opferzahlen der Ukrainer sind leider höher. Denn es sterben sehr viele Zivilisten, was bei den Russen nicht der Fall ist. Dass die russischen Soldaten Kanonenfutter sind und der Kremel bewusst die Verluststatistik seiner Soldaten verzerrt und gering haltet, ist jedoch nicht weiter erstaunlich. In den Tschetscheniekriegen fielen ja damals anscheinend auch keine russischen Soldaten. Für uns im Osten ist diese Polemik nichts neues.
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MartinZH
16.08.2023 00:29registriert Mai 2019
Das nun von der ETH berechnete Verhältnis von ~1:4,45 kommt sicher ganz gut hin. Es gibt diverse andere seriöse Quellen, die bis anhin ebenfalls von einem Verhältnis von 1:5 bis 1:4 ausgingen.

Selbstverständlich gehen diese Quellen nicht von "Anzahl Gräbern" aus, wie man hier mitunter – absurderweise – in manchen Kommentaren lesen kann, sondern aufgrund von nachrichtendienstlichen Informationen (Truppenstärken der einzelnen Verbände, Pat-Anfall, etc.).

Und es gibt auch unabhängige RU-Medien im Ausland, die aufgrund von Todesanzeigen relativ verlässliche Daten bzügl. der RU-Seite berechneten.
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