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Ukraine-Krieg: Wie ein Russe vor Mobilmachung geflohen ist

«Man weiss nie, ob sie dich abholen»: Wie ein Russe vor der Mobilmachung geflohen ist

Mit dem Auto über die finnische Grenze, dann per Fähre weiter und schliesslich bis nach Berlin. Ein Russe berichtet von seiner Flucht vor der Mobilisierung.
07.11.2022, 12:46
Clara Lipkowski / t-online
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t-online

Als sie sich mit dem Auto der russisch-finnischen Grenze näherten, wurden sie nervös. Würde das finnische Grenzpersonal sie stoppen? Sie abweisen und zurückschicken nach Russland? Oder gar den russischen Behörden melden? Würden diese sie dann direkt in einen der Busse setzen, die in Richtung Ausbildungscamps für Frontsoldaten fuhren? «Wir hatten uns schon alle möglichen Gründe für unsere Ausreise bereitgelegt», erzählt Anton, 37, später. Er war einer von dreien, die in einem dunklen Opel Astra auf die Grenze zufuhren. Immerhin, es gab keine lange Schlange, als sie ankamen.

"Berlin ist interessant", sagt Anton. Aber eigentlich wollte er ja gar nicht weg aus Moskau.
«Berlin ist interessant», sagt Anton. Aber eigentlich wollte er gar nicht weg aus Moskau.Bild: t-online

Anton ist aus Moskau und gehört zu den Tausenden Russen, die vor der Mobilisierung geflohen sind. Es ist eins der emotionalsten Themen der vergangenen Wochen in Russland, auch für ihn. Der 37-Jährige ist Vater, Finanzexperte, stolzer Moskauer und hatte gar nicht vor, sein Heimatland zu verlassen. Doch am 21. September verkündete der Kreml, dass 300'000 Reservisten eingezogen werden sollen. Die Mobilmachung begann noch am selben Tag.

Jetzt aber, Ende Oktober, steht Anton in Berlin auf der Strasse Unter den Linden. Es ist sonnig, ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. Neben ihm machen Familien Fotos vor dem Brandenburger Tor, essen Eis. Aber ihm ist nicht nach Sightseeing. Seine Gedanken kreisen darum, ob er eine langfristige Aufenthaltserlaubnis erhält und ob seine Familie nach Berlin nachkommen kann.

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Die Tochter denkt, ihr Vater sei auf Dienstreise

«Berlin ist eine interessante Stadt», sagt er. «Aber ich mag mein Leben in Russland eigentlich.» Er weiss, dass es nicht alle gut finden, dass ausgerechnet russische Menschen hier Zuflucht suchen, wo doch Russland einen Angriffskrieg in der Ukraine führt. Aber er erklärt sich bereit, seine Geschichte zu erzählen.

Bei einem Spaziergang beschreibt er, wie der russische Überfall ihn erst unter Schock setzte, er aber davon ausging, dass nach ein paar Wochen, vielleicht Monaten, alles vorbei sei. Stattdessen spitzte sich die Lage zu. Immer mehr Angriffe, dann die Mobilisierung. Und schliesslich die Einverleibung ukrainischer Gebiete, da war er schon in Deutschland.

Verwandte hätten ihn schon Wochen zuvor gedrängt zu gehen, wer weiss, was noch alles passiert, hätten sie gesagt. «Es musste sein», sagt Anton nun. Am 29. September kam er in Deutschland an. Mit seiner Frau schreibt er sich so oft es geht, mit seiner sechsjährigen Tochter telefoniert er regelmässig per Video. Sie denkt, ihr Vater sei auf Dienstreise.

So wie Anton geht es derzeit vielen Russen. Sie wollen nicht in den Krieg ziehen. Grobe Schätzungen gehen von Hunderttausenden aus, die vor der Mobilmachung aus Russland geflohen sind. In den Westen, so wie Anton, oder nach Zentralasien. Viele flohen in die Türkei, andere nach Georgien – Länder, in die Menschen mit russischem Pass visafrei einreisen können.

Die sogenannte Teilmobilisierung war zwar immer wieder im Gespräch, versetzte dann aber trotzdem viele Menschen im Land in Angst. Noch am selben Tag schnellten die Preise für internationale Flug- und Zugtickets in die Höhe. An Grenzübergängen, etwa nach Kasachstan, bildeten sich lange Schlangen.

Das Brandenburger Tor im Rücken wartet Anton jetzt an einer Fussgängerampel. Dann setzt sich der Strom von Menschen in Bewegung, er lässt sich mitziehen und erzählt, wie er durch Kanäle in sozialen Medien scrollte und von Leuten las, die aufbrachen. Er selbst zögerte. «Eine ganze Familie umzusiedeln, ist nicht so einfach», sagt er.

Mehrmals bei Protesten

Obwohl er damit rechnete, eingezogen zu werden. Auch ihm wurde ein offizieller Einberufungsbescheid geschickt, wenn auch an die falsche Adresse. Anton ist gesund, im wehrfähigen Alter. Er hat einen Militärausweis, wie ihn Männer in Russland bekommen, wenn sie eine Art Armee-Grundkurs gemacht haben. Damit sind sie automatisch für die Reserve registriert.

Ihm kam mit der Zeit ein weiterer Gedanke. In Moskau hängen in den Strassen und U-Bahnen viele Kameras. «Mir kam der Gedanke, was, wenn man mich darauf erkennt?», meint er. Er traut seiner Regierung durchaus zu, auch solche Mittel zu nutzen, um Reservisten zu finden. Er fürchtete, dass ihm zum Verhängnis werden könnte, dass er seit 2012 sieben, acht Mal gegen die Regierung auf die Strasse gegangen war. Verwandte drängten ihn weiter, Freunde fragten, ob er auch gehen werde. Also scrollte Anton weiter durch die sozialen Medien.

Auf Telegram fand er schliesslich einen IT-Spezialisten, der ebenfalls der Mobilmachung entgehen wollte. Ausserdem eine junge Frau, die mit dem Auto nach Frankreich wollte, um Geld zu sparen und um gleichzeitig den Männern ausser Landes zu helfen.

Für die drei verlief es vergleichsweise glimpflich, erzählt Anton, andere seien tatsächlich zurückgeschickt worden. Manche machten selbst kehrt, als sie die langen Schlangen zum Beispiel vor der kasachischen Grenze sahen – und tauchten unter. «Wir sahen aus wie Freunde, die Urlaub haben und einen Roadtrip machen», sagt Anton. An der Grenze zu Finnland jedenfalls, dem kritischsten Punkt der Reise, wurden sie einfach durchgewunken. «Ein kurzer Blick in unsere Pässe, das war's.» Die Erleichterung war gross. Ihre vorbereiteten Ausreden, sie würden Verwandte besuchen, seien beruflich unterwegs, waren unnötig.

2'300 Kilometer in drei Tagen

Es ging durch Finnland bis Schweden und nach Dänemark, teils per Fähre, schliesslich nach Deutschland. 2300 Kilometer in drei Tagen und zwei Nächten. In Hamburg trennten sie sich.

Anton wollte nach Berlin, weil er hoffte, dort gut mit Englisch durchzukommen. Er arbeitet jetzt weiter als Finanzspezialist für eine internationale Firma, seine Vorgesetzten wissen um seine Situation. Homeoffice sei kein Problem, sagt Anton. Eine Übergangswohnung hat er über ein Internetportal gefunden.

Anton geht die Strasse Unter den Linden weiter. Er spricht fliessend Englisch, nur ab und zu nutzt er ein russisches Wort, entschuldigt sich dann und grinst. Er spricht ruhig und stellt Fragen. Auch sich selbst, er hadert mit sich, das wird deutlich. Seinen vollständigen Namen will er nicht öffentlich machen. Wer weiss, meint er. Er befürchtet Repressionen, sollte er zurückkehren. Vor der russischen Botschaft bemerkt er die weiträumige Absperrung, hier kommt es immer wieder zu Protesten.

Mitstreiter wurden abgeführt

Unmut gegenüber Russland kann er verstehen. Doch was könne er tun gegen seine Regierung, fragt er. Er habe demonstriert, gesehen, wie Mitstreiter abgeführt wurden. «Aber was für eine Handhabe haben wir denn?» Er wirkt ratlos. «Die Repressionen im Land», sagt er nachdenklich, «sie wirken».

Die grosse Mehrheit der Menschen in Russland lebt ein von der Politik distanziertes Leben. Es gilt das Prinzip: Wir lassen die Politik in Ruhe und die Politik hält sich aus unserem Leben raus. Auch Anton konnte sich damit lange arrangieren. Er hatte ein Einkommen, Familie, Freunde, eine Wohnung. Er bereiste die Welt, war in den USA, in Europa. Er ging wählen, aber dass Putin sich nicht gross um Wahlen schert, nahm Anton letztlich hin. Im Grunde war für ihn ja alles in Ordnung. Das, meint er, gehe ihm jetzt nicht mehr aus dem Kopf.

Etwa einen Monat nach seiner Flucht ist die sogenannte Teilmobilisierung in Russland beendet worden. Letzte Woche teilte der Kreml mit, dass die 300'000 Menschen bereits eingezogen, 87'000 von ihnen schon im Kampfgebiet sein sollen. Die anderen würden weiter ausgebildet, hiess es von Putins Sprecher Dmitrij Peskow. Diese Nachricht könnte denen, die noch nicht eingezogen sind, signalisieren: Euch trifft es nicht, ihr habt nichts zu befürchten.

«Es könnte im Frühling wieder losgehen»

Anton ist skeptisch. «Vielleicht wurden tatsächlich genug Rekruten für den Krieg gefunden», schreibt er nach dem Spaziergang bei WhatsApp. «Zumindest, um die Front einigermassen zu halten». Seine Rückreise plant er aber nicht. Er sucht nach einer längerfristigen Bleibe, fährt jetzt mit einem der Fahrräder, die man an jeder Ecke ausleihen kann, durch Berlin. Er vermutet, die Mobilisierung «könnte im Frühling wieder losgehen.» Wenn die Temperaturen eine grosse Offensive erlauben. In russischen unabhängigen Medien ist die Rede davon, dass schon nach Neujahr wieder eingezogen werden könnte. Und: Offiziell besiegelt ist das Ende der Mobilisierung ohnehin nicht.

Denn ein entsprechendes Dekret hat Wladimir Putin bislang nicht unterzeichnet, dies sei juristisch nicht nötig, hiess es zuletzt aus dem Kreml. Menschenrechtler fürchten, dass die Mobilisierung schleichend weitergehen könnte. Für Anton ist ohnehin fraglich, wie die Behörden reagieren, sollten sie registrieren, dass er aus- und wieder eingereist ist.

Das Leben in Russland sei jetzt sehr unsicher, meint er. «Man weiss nie, ob sie nicht irgendeinen Grund finden, dich zu Hause abzuholen.»

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16 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Überdimensionierte Riesenshrimps aka Reaper
07.11.2022 13:06registriert Juni 2016
Die Politische Teilnahmslosigkeit der Russen rächt sich nun und sie werden von den Geistern eingeholt die sie haben gewähren lassen.

Was ist Russlands langfristige Perspektive?
Wie soll sich das Land entwickeln wenn 400'000 in der Armee Dienst tun müssen und 400'000 das Land verlassen haben weil sie Angst haben in den Krieg gezwungen zu werden?
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Doppellottotreffer
07.11.2022 14:07registriert September 2021
Dieser Russe findet es also in Moskau ganz angenehm und er findet nichts dabei wenn sein Land halt ab und zu mal ein anderes Land militärisch angreift, ganze Städte zerbombt und Gebiete anektiert, solange es nur schnell genug geht dass er nicht Gefahr läuft selber in den Krieg zum sterben geschickt zu werden.
Sorry, für solch widerliche, gewissenlose Hampelmänner habe ich null Verständnis, soll er sich doch zum Teufel scheren.
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