Nach der Waffen-Debatte ist vor der Waffen-Debatte. In westlichen Hauptstädten bahnt sich eine neue Diskussion über die Lieferung von schwerem Gerät an, das die ukrainische Armee nicht nur defensiv, sondern auch offensiv nutzen kann.
Konkret ist derzeit Washington daran, das nächste Hilfspaket für die Ukraine zu schnüren. Es soll gemäss Informationen der Nachrichtenagentur Reuters erstmals auch präzisionsgelenkte Raketen mit einer Reichweite von 150 Kilometern enthalten. Eine solche Waffe würde die Feuerkraft der ukrainischen Streitkräfte massiv erhöhen: Das Waffensystem HIMARS, das die Amerikaner im vergangenen Sommer in die Ukraine lieferten, hat bloss eine Reichweite von 80 Kilometern.
Die angeblich neue Wunderwaffe trägt den sperrigen Namen Ground Launched Small Diameter Bomb (GLSDB) und wird gemeinsam von Boeing und dem schwedischen Saab-Konzern hergestellt. Es handelt sich dabei um eine Kombination einer präzisionsgelenkten Bombe mit einem Raketenantrieb, die einen vergleichbar billigen Stückpreis von rund 40'000 Dollar aufweist. Die neue Waffe könnte bereits im Frühjahr auf dem ukrainischen Schlachtfeld eingesetzt werden und Vergeltungsschläge in den rückwärtigen besetzten Gebieten ermöglichen. Auf die von Präsident Wolodimir Selenskyj schon lange geforderten ballistischen Kurzstreckenraketen des Typus ATACMS, die bis zu 300 Kilometer weit fliegen können, muss die Ukraine allerdings noch verzichten: Sie sind vorerst nicht Teil der US-Diskussion.
Aber auch von europäischer Seite stehen neue Waffenlieferungen an: So will Frankreich zu den bereits gelieferten 18 Cäsar-Panzerhaubitzen zusätzlich deren 12 zur Verfügung stellen. Ebenfalls kurz bevorstehen könnte der Beschluss zur gemeinsamen Lieferung des Luftabwehrsystems «Mamba» von Frankreich und Italien. In Brüssel hiess es, dass der Umfang der Ausbildungseinsatzes verdoppelt und neu insgesamt 30'000 ukrainische Soldaten in EU-Staaten ausgebildet werden sollen.
Wenig Bewegung gibt es hingegen in der Kampfjet-Debatte, welche sich nahtlos an die Kampfpanzer-Diskussion reiht. Litauens Präsident Gitanas Nauseada appelliert an den Westen, vermeintlich «rote Linien zu überschreiten». Während der deutsche Kanzler Olaf Scholz davon gar nichts wissen möchte und vor einem «ständigen Überbietungswettbewerb» warnt, hält sich Frankreichs Emmanuel Macron alle Optionen offen. Eine Lieferung von Kampfjets sei nicht ausgeschlossen, sofern gewisse Bedingungen erfüllt seien, so Präsident Macron. Dazu gehöre, dass die Jets der Ukraine im gegenwärtigen Kriegsgeschehen wirklich nützen würden und dass Verteidigungsfähigkeit der französischen Streitkräfte gewahrt bleibe.
Auf einem anderen Blatt steht dagegen, ob die Europäer überhaupt in der Lage wären, die Ukraine zweckdienlich auszurüsten. Bei den Kampfflugzeugen dürfte die Munitionslage nämlich noch prekärer sein, als bei Artilleriewaffen, wo die europäischen Bestände bereits arg unter Druck sind. Zur Erinnerung: Beim Nato-Einsatz im Jahr 2011 zur Durchsetzung der Flugverbotszone in Libyen ging den Europäern schon nach kurzer Zeit die Munition aus. Aus diesem Grund käme wohl zuerst die Lieferung von amerikanischen F-16 infrage. Der Kampfjet ist bereits in mehreren europäischen Ländern im Einsatz und die USA haben in ihren Arsenalen ausreichend Munition gelagert.
Neben den Waffenlieferungen hofft der ukrainische Präsident Selenskyj aber auch auf neue Unterstützung auf dem politischen Parkett. Namentlich beim EU-Beitritt, für welchen die Ukraine seit Juni offiziell den Kandidatin ist. Selenskyj erwartet hier für das Gipfeltreffen mit EU-Kommissions-Chefin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel am Freitag in Kiew «Neuigkeiten» und «Entscheidungen, die unserem Fortschritt entsprechen», wie er angekündigt hat.
Tatsächlich attestieren EU-Beamte der Ukraine trotz dem schwierigen Umfeld bei Rechtsstaatsreformen und Bekämpfung der Korruption vorwärts gemacht zu haben. Trotzdem bleibt es aber noch ein weiter Weg, wie exemplarisch die Enthüllungen um schmutzige Geschäfte im Verteidigungsapparat von vergangener Woche zeigen. Die Vorstellungen mancher ukrainischer Politiker, ihr Land könne bis 2026 EU-Mitglied sein, bleiben jedenfalls unrealistisch. Hinter den Kulissen sollen mehrere EU-Mitgliedsstaaten Druck auf die EU-Spitzen ausgeübt haben, Selenskyj beim Gipfel keinesfalls das Blaue vom Himmel zu versprechen.
Ein anderes Thema, wo Selenskyj versuchen dürfte, von der Leyen und Michel zu Bekenntnissen zu bewegen, ist die Beschlagnahmung der eingefrorenen Reserven der russischen Zentralbank, die sich auf knapp 300 Milliarden Euro belaufen. Während sowohl von der Leyen wie auch Michel sich unlängst für die Prüfung dieser Massnahme ausgesprochen haben, ist die rechtliche Umsetzbarkeit stark umstritten. In der EU-Kommission selbst heisst es, die Angelegenheit sei «höchst komplex». An den beiden EU-Chefs wird es nun liegen, Selenskyj reinen Wein einzuschenken, und ihn gleichzeitig nicht zu enttäuschen. (aargauerzeitung.ch)