Vier Tage nach dem Blutbad in Moskau mit rund 140 Toten nennt selbst Wladimir Putin «radikale Islamisten» als wahrscheinliche Täter. Russlands Präsident sagte am Montagabend in seiner zweiten TV-Ansprache seit dem Massaker: «Wir wissen, dass das Verbrechen von radikalen Islamisten begangen wurde, deren Ideologie die islamische Welt selbst seit Jahrhunderten bekämpft.»
Inzwischen werden die Bekennerschreiben und Videos der Terrorgruppierung «Islamischer Staat Provinz Khorasan» (ISPK) in Russland als glaubwürdig angesehen. Das hindert jedoch russische Kanäle nicht daran, weiterhin die Hintermänner des Anschlags in Kiew, London oder Washington zu suchen. Gleichzeitig beschuldigen Putin-Gegner den russischen Machthaber als eigentlichen Drahtzieher. Bei all diesen Mutmassungen werden die IS-Terroristen lediglich als bezahlte Handlanger dargestellt.
Die derzeit gängigen Theorien zu den Hintergründen des Anschlags auf die Crocus City Hall am Freitagabend lassen sich wie folgt zusammenfassen.
Experten wie Peter R. Neumann vom Londoner King's College weisen auf mehrere Belege hin, wie sich der Moskauer Anschlag nahtlos in frühere Verbrechen des Islamischen Staats einreiht. Von der authentischen Wortwahl in den drei Bekennerschreiben über die Herkunft der mutmasslichen Attentäter aus dem bevorzugten IS-Rekrutierungsgebiet Tadschikistan bis hin zur angewendeten Taktik einer tödlichen Kommandoaktion mit Rückzugsmöglichkeit.
Obschon Terrorexperte Neumann betont, dass Putin die Folgen des Anschlags für seine politischen Zwecke missbrauchen könnte, trüge das Massaker genügend Merkmale einer von langer Hand vorbereiteten, eigenständigen IS-Terroraktion. Diese Meinung teilt ein weiterer anerkannter deutscher Analyst, Ralph D. Thiele.
Was dafür spricht: Russland ist nach seiner Teilnahme an der IS-Zerschlagung in Syrien und der engen Verbindung zum schiitischen Mullah-Regime im Iran einer der grössten Feinde des Islamischen Staats und damit primäres Ziel. Die zuvor erfolgte Terrorwarnung durch die gut vernetzten US-Geheimdienste erhärtet laut Neumann diese These.
Was dagegen spricht: Zahlreiche seltsame Umstände des Attentats. Etwa: Wieso dauerte es so lange, bis die russischen Sicherheitskräfte eingriffen? Wieso liessen sich die mutmasslichen Täter nach einer erstaunlich langen Flucht widerstandslos festnehmen?
Was russische Chefpropagandisten wie Margarita Simonjan und Wladimir Solowjow schon seit Tagen in ihren Sendungen predigen, strich am Dienstag ein Sprecher des russischen Sicherheitsrats heraus: «Natürlich» sei der Anschlag in Kiew geplant worden, behauptete Sekretär Nikolai Patruschew in Moskau vor Journalisten. Auch die «Süddeutsche Zeitung» spekulierte am Montag über angebliche Verbindungen des ukrainischen Geheimdienstes zu IS-Kreisen, ohne aber dafür Belege zu erbringen.
Der russische Politanalyst Sergej Markow sah im Crocus-Massaker den Versuch der Ukraine, nach erfolgter Wahl Putins Regierung zu destabilisieren und wegen Kiews Niederlagen auf dem Schlachtfeld aus Rache den Krieg nach Moskau zu tragen.
Was dafür spricht: Das offensichtliche Versagen der russischen Sicherheitskräfte in der Terrornacht kratzt am öffentlichen Ansehen von Putin. Das Attentat beweist, dass der Kreml nicht in der Lage ist, die russische Bevölkerung zu schützen.
Was dagegen spricht: Seit der Besetzung der Krim 2014 hat die Ukraine nie Vergeltungsschläge gegen russische Zivilisten durchgeführt. Sämtliche Luftangriffe und Bodenangriffe sind stets gegen strategische Ziele gerichtet gewesen. Es gibt keinen plausiblen Grund, wieso Kiew in angespannter Kriegslage das Vertrauen der Verbündeten mit einem solchen Blutbad an Unschuldigen aufs Spiel setzen und eine weitere Eskalation Moskaus riskieren sollte.
Entsprechend empört wiesen Präsident Wolodymyr Selenskyj und US-Sicherheitsberater John Kirby die Beschuldigungen aus Moskau als «kompletten Schwachsinn» zurück. Die Widersprüche, etwa mir der US-Terrorwarnung, sind so gross, dass selbst Putin in seiner zweiten Rede beim Ukraine-Vorwurf zurückkrebsen musste.
Dies ist eine Variante der Ukraine-Theorie, geäussert von denselben russischen Kreisen, alternativ mit oder ohne Mitwissen der Ukraine. Entsprechend gelten dieselben Argumente wie oben. Darüber hinaus: Die offizielle Terrorwarnung von Anfang März durch die US-Botschaft in Moskau macht unter dieser Prämisse erst recht keinen Sinn.
Ex-Schachweltmeister und Putin-Feind Garri Kasparow war nach dem Anschlag einer der ersten, die diese These aufstellten. Der ehemalige russische Geheimdienstoberst Igor Salikow sieht ebenfalls den Kreml als Drahtzieher; im Interview mit CH Media zählte er verschiedene Unstimmigkeiten im Ablauf auf, an denen er die Handschrift der russischen Geheimdienste zu erkennen glaubt.
Darin stimmt auch der schwedische Russland-Kenner Anders Aslund ein. Die Inszenierung des Attentats reihe sich in frühere Aktionen Putins ein und erlaube ihm jetzt eine weitere Kriegsmobilisierung, schreibt der einstige Berater von Boris Jelzin.
Was dafür spricht: Das Massaker liefert triftige Gründe, um Russlands Bevölkerung noch stärker hinter Putins Kriegsanstrengungen zu scharen, den Hass auf die Ukraine und den Westen zu steigern und eine weitere Mobilisierungswelle zu erdulden. Die ersten Reaktionen aus Moskau deuteten alle in diese Richtung.
Was dagegen spricht: Braucht Putin nach «klar gewonnener» Wiederwahl überhaupt eine Rechtfertigung, um weitere Kriegsmassnahmen irgendwelcher Art anzuordnen oder noch härter gegen interne Kritiker vorzugehen? Putins Imageschaden durch das Attentat und dessen kaum berechenbare Folgen lassen an der «False Flag»-Theorie vielmehr zweifeln, sagt der österreichische Russland-Experte Gerhard Mangus auf focus.de. (aargauerzeitung.ch)