Die Ereignisse rund um Asowstal in Mariupol haben das weltweite Bild vom Ukraine-Krieg geprägt: In den Bunkern des weltweit grössten Stahlwerks verschanzen sich ab März Hunderte Zivilisten und ukrainische Kämpfer und harren Wochen dort aus. Währenddessen bombardiert die russische Armee die Hafenstadt Mariupol in Schutt und Asche, belagert das Stahlwerk und beschiesst es mit funkenden Bomben. Dramatische Hilferufe dringen aus dem Stahlwerk. Und am 20. Mai schliesslich nimmt die russische Armee das riesige Industriegelände ein sowie die ukrainischen Kämpfer gefangen.
Asowstal – das ukrainische Symbol des Widerstands – ist gefallen.
Nun droht sich die Geschichte zu wiederholen – in der Asot-Chemiefabrik in Sjewjerodonezk. Oder doch nicht?
Im Fokus der russischen Armee steht zurzeit der Donbas im Osten der Ukraine. Einer der brutalsten Kriegsschauplätze in der Region befindet sich rund um die 100'000-Einwohner-Stadt Sjewjerodonezk in der Oblast Luhansk, wo seit Ende Mai im grossen Stil gekämpft wird.
Äquivalent zu Mariupol gibt es auch in Sjewjerodonezk ein riesiges Industriegebiet, in dem Zivilisten und Soldaten Unterschlupf gefunden habe – eine letzte ukrainische Bastion in einem Gebiet, das von der russischen Armee erobert wurde: die Chemie-Fabrik «Severodonetsk Azot Association» (Asot).
Genau wie Asowstal in Mariupol ist auch Asot in Sjewjerodonezk untertunnelt, mit einem Gewirr aus Gängen, die dazu gebaut worden sind, einem Atomkrieg standzuhalten.
Mindestens 500 bis 1200 Zivilisten sollen sich laut unterschiedlicher Angaben in den Luftschutzbunkern von Asot verstecken – darunter auch 200 Fabrikangestellte, die die hochexplosiven Chemikalien auf dem Gelände sichern, und zig Kinder.
Doch die Versorgung dieser Zivilisten wird zunehmend unmöglich. Wie in Mariupol damals wird auch in Sjewjerodonezk die Versorgung mit sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen und Strom immer prekärer.
Der Sprecher des UN-Nothilfeprogramms, Saviano Abreu, sagt der BBC:
Über den Zustand verschanzter Zivilisten ist nur wenig bekannt. Die «Washington Post» berichtete von extremen Bedingungen, unter denen die Menschen ausharrten. Bedingungen, die an die Schilderung aus Asowstal erinnern.
Von russischer Seite wurde immer wieder ein Vorwurf geäussert, der auch in Mariupol mehrfach laut wurde: Die Ukraine habe die Zivilisten absichtlich in die Keller gelockt, um sie als lebende Schutzschilde für die Armee zu missbrauchen. Die ukrainische Armee habe sogar das Gelände vermint, um die Zivilisten an der Flucht zu hindern. Haltbare Belege für solche Aussagen konnte Russland bis jetzt nicht liefern.
Genau wie in Asowstal wurden bis jetzt mehrfach Feuerpausen angekündigt, um die Zivilisten aus den Bunkern zu evakuieren – in prorussische Gebiete in Luhansk, eine Bedingung Moskaus.
Und genau wie in Asowstal wurden die Feuerpausen bis jetzt mehrfach gebrochen. Moskau und Kiew werfen sich jeweils gegenseitig Wortbruch vor. Abreu benennt auf Twitter keine der Partei als schuldig für die Situation, sondern erinnert auf Twitter beide Seiten an ihre humanitären Pflichten:
Das sagt der ukrainische Militärjournalist Juri Butusow, der sich vor Ort befindet. Er erklärt die wichtigsten Unterschiede zwischen der Situation von Asowstal und Asot aus seiner Sicht in der russischsprachigen Ausgabe des «Forbes»-Magazins so:
Was sich elementar unterscheiden würde im Gegensatz zur Situation in Asowstal, sei die neue taktische Ausrichtung des ukrainischen Militärs – und damit einhergehend eine veränderte Einstellung der Kämpfer.
Nachdem die Russen den grössten Teil der Stadt erobert hatten, sei es für die ukrainische Verteidigung eigentlich unrentabel, das Industriegebiet von Sjewjerodonezk zu halten, sagt Butusow. Aber man sehe zurzeit keine Möglichkeit seitens der russischen Armee, nach Asot durchzubrechen. Denn: «Die Kämpfe dort sind nicht einseitig». Man sei aber bereit, die taktische Entscheidung zu treffen, sich aus Asot zurückzuziehen und nicht auf Zeit zu spielen wie in Aswostal, sollte der Kampf einseitig werden.
Denn in Mariupol hätten unmöglich auszuführende Befehle zu einer «heroische Selbstaufopferung» von gut ausgebildeten Militärs geführt. Butusow betont, dass aus seiner Sicht der Tod der Soldaten in Asowstal nicht das Verschulden der Kämpfer und Kommandanten vor Ort gewesen sei. Denn diese hätten bloss den Befehl ausgeführt, in der Umgebung zu bleiben, ohne dass die Möglichkeit von ständigem Nachschub bestanden hätte. Er spricht von der Einsicht:
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagt in einer seiner allabendlichen Ansprachen: Sjewjerodonezk sei momentan der heisseste Ort des Krieges. Und in Sjewjerodonezk werde sich das Schicksal des Donbas entscheiden.
Die Einnahme der Stadt wäre bezüglich des Kriegsverlaufs von grosser strategischer Bedeutung für Russland. Denn Sjewjerodonezk ist eine der beiden letzten grösseren Städten in Luhansk, die sich nicht vollständig unter Kontrolle russischer Truppen oder prorussischer Separatisten befindet.
Eine Eroberung der Stadt würde der russischen Armee den Weg zu zwei wichtigen Zentren in der Nachbarregion Donezk öffnen: Slowjansk und Kramatorsk. Zudem ist Sjewjerodonezk ein politisches Zentrum und der Widerstand in der Stadt ist für die ukrainische Moral wichtig.
Sjewjerodonezk liegt am Ufer des Flusses Siwerskyj Donez, dessen Überquerung für die Einnahme der Stadt Lyssytschansk wichtig wäre – der anderen grösseren luhansker Stadt, die noch unter ukrainischer Kontrolle ist. Die Einnahme von Lyssytschansk wiederum wäre strategisch wichtig, da die Stadt mit ihrer Autobahn eine Verbindung zu anderen Gebieten in der Ukraine herstellt.
Dem britischen Verteidigungsministerium zufolge könnten Flussüberquerungspunkte wie der zwischen Sjewjerodonezk und Lyssytschansk in den kommenden Monaten eine zentrale Rolle im Kräftemessen zwischen Russland und der Ukraine spielen.
Und das Ufer des Siwerskyj Donez um Sjewjerodonezk wird aktuell vorwiegend von der ukrainischen Armee kontrolliert. Die russische Armee scheiterte im Mai bereits grandios bei einem Versuch, den Fluss zu überqueren, da die am Flussufer versammelten russischen Truppen für die ukrainische Artillerie ein gefundenes Fressen waren – mehrere Hundert russische Soldaten verloren an diesem Tag ihr Leben. Allerdings: Hätte die russische Armee die volle Kontrolle über das Gebiet um Sjewjerodonezk, könnten solche Massaker eher verhindert werden.
Sjewjerodonezk gilt als wichtigste Industriestadt in der Ukraine, denn mehrere Chemieunternehmen sind dort angesiedelt. Unter anderem auch die Asot-Chemiefabrik, die zum Unternehmen Ostchem gehört. Sie liegt am Ufer des Siwerskyj Donez.
Ostchem ist weltweit einer der führenden Düngemittelhersteller. In Sjewjerodonezk wird für das Unternehmen in erster Linie flüssiges Ammoniak sowie Ammoniumnitrat hergestellt. Zudem produziert Asot auch Essigsäure, Methanol und Vinylacetat – allesamt Stoffe mit hohem Explosionspotenzial, die giftige Gase freisetzen.
Doch die russische Armee macht keinen Halt davor, das Chemiewerk trotz der explosiven und giftigen Stoffe und Dämpfe zu beschiessen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bewertete diese Attacken als «schlichtweg verrückt».
Am 11. Juni meldeten die prorussischen Separatisten, dass sie Asot umzingelt hätten: «Alle Fluchtwege sind abgeschnitten», schrieb der Botschafter der selbst ernannten Volksrepublik Luhansk in Moskau, Rodion Miroschnik, auf Telegram. «Die Informationen über die Blockade von Asot sind eine Lüge», konterte daraufhin Serhiy Gaidai, der Gouverneur der Oblast Luhansk. Und er ergänzte: «Unsere Kräfte halten die Industriezone von Sjewjerodonezk und zerstören die russische Armee in der Stadt.»
Doch ob das stimmt und wie lange dies noch gelingt, ist ungewiss. Denn die Tatsache, dass zurzeit keine Brückenverbindung zwischen Sjewjerodonezk und Lyssytschansk über den Fluss Siwerskyj Donez besteht, ist auch für die ukrainische Armee ein Problem: Der einfachste Weg, Nachschub aller Art zu bekommen, ist abgeschnitten. Während Nahrung im Notfall auch schwimmend transportiert werden kann, ist dies bei Munition kaum möglich. Die Verteidigung einer Stadt oder einer Industrieanlage unter solchen Bedingungen ist sehr schwierig.
Am 15. Juni wiederholte die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass, dass die ukrainischen Kämpfer in Asot definitiv eingeschlossen wären. Das Chemiewerk Asot ist laut ukrainischen Angaben durch den russischen Artillerie- und Raketenbeschuss mittlerweile fast vollständig zerstört.