Zu Beginn lächelt er noch. Garry Kasparow, Schachlegende und einer der wichtigsten Gegner des russischen Präsidenten Wladimir Putin, schlendert auf die Bühne des Swiss-Economic-Forums in Interlaken und witzelt zunächst über seine ausfallenden Haare.
Nach etwas Vorgeplänkel zur Künstlichen Intelligenz folgt direkt der erste Hitler-Vergleich. «Die Fehleinschätzung des Westens bei Wladimir Putin war grösser als jene in der 1930er-Jahren», sagt Kasparow. Putin habe so viele Verbrechen begangen, und trotzdem habe ihn der Westen als Partner gesehen.
Kasparow trägt die weiss-blau-weisse Flagge am Revers - das Symbol des Widerstands gegen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Zu den Putin-Gegnern gehört er aber nicht erst seit letztem Jahr. Vielmehr ist der 60-Jährige ein Kritiker der allerersten Stunde. Seit 2001 schreibt er gegen Putin an. «Mir war damals schon klar, dass er eine grosse Gefahr für die Demokratie in Russland ist.» Nicht etwa, weil er ein Hellseher wäre - «ich habe ihm einfach zugehört seit 1999».
Immer wieder habe Putin seine Absichten offengelegt. Dass er das russische Imperium wiederbeleben möchte, sei alles andere als ein Geheimnis gewesen. Opposition gegen ihn gab es jedoch keine, klagt Kasparow. Weder in Russland noch im Westen. Also wurde Putin immer selbstbewusster. 2008 hat er Georgien überfallen, 2014 die Krim annektiert. «Nichts ist passiert.»
Tatenlosigkeit wirft Kasparow dem Westen immer noch vor. «Wir sehen, wie die Menschen aus Cherson evakuiert werden. Wir sehen, was dort passiert», sagt Kasparow - und meint die Überflutungen nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms. «Die Welt reagiert zu langsam.» Dabei würden wir - anders als etwa in Kambodscha oder Ruanda, wo es zu schlimmen Völkermorden grösstenteils im Verborgenen kam - in der Ukraine alles via Internet hautnah verfolgen können. Kasparow spricht von einem «nie dagewesenen Verbrechen».
Angesprochen auf die Neutralität der Eidgenossenschaft, sagt Kasparow: «Es ist Ihre Wahl als Schweizer.» Aber: «Man kann nicht neutral sein, wenn das absolut Böse gegen uns kämpft.» Alles was getan werden könne, um der Ukraine zu helfen, müsse auch getan werden.
Denn klar sei: «Die einzige Möglichkeit, diesen Krieg zu beenden, ist ihn zu gewinnen.» Es gebe keine Möglichkeit zum Kompromiss, sagt der ehemalige Schachweltmeister. «So lange Putin an der Macht ist, wird dieser Krieg nicht enden.» Was ein Sieg bedeutet, ist für Kasparow ebenfalls klar: Die Ukraine müsse zurückkehren in die Grenzen von 1991. Also mit der Krim.
Das hätte auch Folgen für Russland. «Ich hoffe, dass Russland nach der Niederlage gegen die Ukraine in die euro-atlantische Gemeinschaft zurückkehrt. Wir haben nach Putins Ende eine Chance, Russland zu verändern». Alles sei offen: Das Land könne ein föderaler Staat werden - «oder einfach eine chinesische Provinz».
Zum Schluss wird's noch mal persönlich. Ob er sich denn sicher fühle - Kasparow sagt: «Im Allgemeinen fühle ich mich nicht sicher, aber in der Schweiz schon. Oder sollte ich mir Sorgen machen?»
Und auf die anschliessende, etwas merkwürdige Bitte, eine Neudefinition der Schweizer Neutralität zu formulieren, sagt Kasparow trocken: «Follow the money» - Folge dem Geld. Er lächelt nicht dabei. (aargauerzeitung.ch)
Es geht bei Neutralität halt nicht um Moral (was man denken würde) , es geht um Geld. Um sich Moralisch zu verhalten braucht man Rückgrat, und das fehlt vielen Menschen. Dann bleibt nur die Portemonnaie übrig.