In der Realität gibt es keine neutrale Position: Darf kein Kriegsmaterial aus Schweizer Produktion in die Ukraine geliefert werden, profitiert Russland. Nur rechtlich ist der Fall klar: Es gilt ein Lieferverbot. Ein Dilemma.
Stefan Bühler / ch media
Mitte-Präsident Gerhard Pfister hat am Sonntag in ein Wespennest gestochen. Über Twitter sprach er sich dafür aus, dass Kriegsmaterial aus Schweizer Produktion in die Ukraine geliefert werden dürfe. Er stiess auf einigen Zuspruch – und heftige Ablehnung.
Die Grüne Basler Nationalrätin Sibel Arslan schrieb am Dienstag einen Tweet: «Waffen führen dazu, dass auch die Seelen verletzt sind. (...) Mit Waffen schafft man keinen Frieden. Auch langfristig nicht. Punkt.» Sie erntete dafür einen Shitstorm: «Sollen wir die Ukraine ihrem Schicksal überlassen?», fragte ein User.
Auch Stefan Holenstein, der langjährige Präsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft, leistet Pfister jetzt Schützenhilfe:
«Ich bin der Ansicht, dass wir Lieferungen von Schweizer Kriegsmaterial an die Ukraine bewilligen sollten. Dies unter der Prämisse, dass dort unsere ureigensten Werte wie Freiheit, Menschenrechte, Demokratie verteidigt werden. Und es primär auch um unsere Sicherheit geht.»
Holenstein, der heute als Präsident der Landeskonferenz der militärischen Dachverbände (LKMD) vorsteht, plädiert dafür, die Neutralität «grosszügiger auszulegen». Dies auch im Interesse der schweizerischen Rüstungsindustrie: «Diese ist auch Teil von internationalen Produktions- und Lieferketten, mit unserem Verbot lähmen wir auch unsere Rüstungspartner in anderen Ländern.» Damit werde zusätzlich der Produktionsstandort Schweiz in Frage gestellt.

Nachschub gibt es nicht: Ukrainischer Soldat mit Panzerabwehrwaffe NLAW, deren Sprengkopf aus Thun kommt (Dontesk, 15. Febraur 2022).Bild: keystone
Juristisch ist der Fall klar: Haager Abkommen und Kreigsmaterialgesetz
Pfister hat offensichtlich einen wunden Punkt getroffen: Die Schweiz steckt im Dilemma zwischen dem Neutralitätsrecht und der neutralitätspolitischen Realität.
Denn juristisch ist der Fall klar: Das Haager Abkommen von 1907 verbietet es neutralen Ländern wie der Schweiz, kriegführende Staaten mit Truppen oder Waffen zu versorgen. Darauf basiert auch unser Kriegsmaterialgesetz. Das Gesetz wurde vom Parlament erst im letzten Herbst noch verschärft.
Dabei strich das Parlament eine Bestimmung aus der Vorlage, die dem Bundesrat erlaubt hätte, in besonderen Fällen Ausnahmen zu gewähren und Lieferungen zu erlauben – dies notabene auf Antrag von Ständerätin Andrea Gmür aus Pfisters Mitte-Partei.
Dazu schreibt das für die Kontrolle von Waffenexporten zuständige Seco aus dem Wirtschaftsdepartement auf Anfrage: Das Parlament habe mit der Streichung «explizit denjenigen Sachverhalt geregelt, der jetzt auf den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zutrifft und wonach Kriegsmaterialexporte in die beiden Länder zwingend abzulehnen sind.» Pikanter Zufall: Das revidierte Gesetz tritt nächsten Sonntag, am 1. Mai, in Kraft – just eine Woche, nachdem Pfister wesentliche Bestimmungen daraus in Frage gestellt hat.
Eine Analyse zum Kriegsmaterialgesetz und der Neutralität:
Die Schweizer Rüstungsindustrie ist nicht neutral
Während die rechtliche Lage also klar ist, bietet die Realität in der Ukraine der Schweiz freilich überhaupt keine Möglichkeit, effektiv neutral zu bleiben: Untersagt sie die Lieferung von Waffen und Munition aus Schweizer Produktion, schwächt das die ukrainischen Truppen. Liefert sie Waffen, stärkt sie die Ukraine gegen Russland. Dazwischen gibt es nichts.
Kommt hinzu, dass die Schweizer Rüstungsindustrie in internationale Produktionsketten eingebunden ist. Und dies mit voller Absicht: Die gegenseitige Abhängigkeit schaffe mehr Sicherheit, so die Überzeugung der Militärstrategen. Das bedeutet in der Konsequenz aber auch: Die Schweizer Rüstungsindustrie ist nicht neutral, sondern fest in die westliche Militärallianz eingebunden. Ein Schweizer Lieferembargo trifft folglich in den wenigsten Fällen nur ein einzelnes Schweizer Produkt, sondern meist auch die ausländischen Partner.
Illustrieren lässt sich das etwa an der Episode mit Deutschland um die Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard. Ein anderes Beispiel ist die Panzerabwehrwaffe NLAW – die «Next Generation Light Anti-Tank Weapon». Ihre Endfertigung erfolgt in Grossbritannien. Der Gefechtskopf aber kommt aus dem Berner Oberland. Wie die Rundschau Anfang April publik machte, wird die Waffe in der Ukraine eingesetzt. Freilich nur mit Material aus früheren Lieferungen.
Denn neue Gefechtsköpfe dürfen nicht in die Ukraine geliefert werden. Ja, das Seco hat beim Ausbruch des Kriegs in der Ukraine die Bestimmungen sogar verschärft: Bis dahin durften Einzelteile einer Waffe aus Schweizer Produktion auch ohne Bewilligung des Bundes weiterverkauft werden. Dies wurde gestoppt, damit kein Schweizer Kriegsmaterial nach Russland oder in die Ukraine gelangt: Das Seco argumentiert:
«Die Zulieferung von Kriegsmaterial in Form von Einzelteilen oder Baugruppen und deren Export in einem Endprodukt an eine der Konfliktparteien könnte (...) die Glaubwürdigkeit der Schweizer Neutralität beeinträchtigen.»
Haager Abkommen oder Bundesverfassung?
Wie ist das Dilemma zwischen Neutralitätsrecht und der tatsächlichen Situation in der Ukraine zu lösen? Kaum mit einem Notrechtsbeschluss des Bundesrats, die Waffenlieferungen zu bewilligen, wie das Pfister vorschlägt. Dies wäre nur legitim, wenn eine gesetzliche Grundlage für einen dringend nötigen Entscheid fehlt.
Mit dem Kriegsmaterialgesetz liegt eine solche aber vor. Was es braucht, ist eine vertiefte Debatte des Parlaments. Es muss entscheiden, was wichtiger ist: Das strikte Festhalten an der rechtlichen Neutralität gemäss Haager Abkommen von 1907 – oder die «Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken», wie es in der Präambel der Bundesverfassung heisst.
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