Mitte-Präsident Gerhard Pfister hat am Sonntag in ein Wespennest gestochen. Über Twitter sprach er sich dafür aus, dass Kriegsmaterial aus Schweizer Produktion in die Ukraine geliefert werden dürfe. Er stiess auf einigen Zuspruch – und heftige Ablehnung.
BR hat meines Erachtens Kompetenz, 🇩🇪 Lieferung in 🇺🇦 zu erlauben, wenn im Landesinteresse. (Art1 Abs2 Embargo Gesetz). Letzteres scheint mir hier gegeben, wenn🇨🇭einer europäischen Demokratie hilft sich zu verteidigen. BR ist verantwortlich für diese unterlassene Hilfe an 🇺🇦. https://t.co/DXkwTVeexA
— Gerhard Pfister 💙💛 (@gerhardpfister) April 24, 2022
Die Grüne Basler Nationalrätin Sibel Arslan schrieb am Dienstag einen Tweet: «Waffen führen dazu, dass auch die Seelen verletzt sind. (...) Mit Waffen schafft man keinen Frieden. Auch langfristig nicht. Punkt.» Sie erntete dafür einen Shitstorm: «Sollen wir die Ukraine ihrem Schicksal überlassen?», fragte ein User.
Auch Stefan Holenstein, der langjährige Präsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft, leistet Pfister jetzt Schützenhilfe:
Holenstein, der heute als Präsident der Landeskonferenz der militärischen Dachverbände (LKMD) vorsteht, plädiert dafür, die Neutralität «grosszügiger auszulegen». Dies auch im Interesse der schweizerischen Rüstungsindustrie: «Diese ist auch Teil von internationalen Produktions- und Lieferketten, mit unserem Verbot lähmen wir auch unsere Rüstungspartner in anderen Ländern.» Damit werde zusätzlich der Produktionsstandort Schweiz in Frage gestellt.
Pfister hat offensichtlich einen wunden Punkt getroffen: Die Schweiz steckt im Dilemma zwischen dem Neutralitätsrecht und der neutralitätspolitischen Realität.
Denn juristisch ist der Fall klar: Das Haager Abkommen von 1907 verbietet es neutralen Ländern wie der Schweiz, kriegführende Staaten mit Truppen oder Waffen zu versorgen. Darauf basiert auch unser Kriegsmaterialgesetz. Das Gesetz wurde vom Parlament erst im letzten Herbst noch verschärft.
Dabei strich das Parlament eine Bestimmung aus der Vorlage, die dem Bundesrat erlaubt hätte, in besonderen Fällen Ausnahmen zu gewähren und Lieferungen zu erlauben – dies notabene auf Antrag von Ständerätin Andrea Gmür aus Pfisters Mitte-Partei.
Dazu schreibt das für die Kontrolle von Waffenexporten zuständige Seco aus dem Wirtschaftsdepartement auf Anfrage: Das Parlament habe mit der Streichung «explizit denjenigen Sachverhalt geregelt, der jetzt auf den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zutrifft und wonach Kriegsmaterialexporte in die beiden Länder zwingend abzulehnen sind.» Pikanter Zufall: Das revidierte Gesetz tritt nächsten Sonntag, am 1. Mai, in Kraft – just eine Woche, nachdem Pfister wesentliche Bestimmungen daraus in Frage gestellt hat.
Während die rechtliche Lage also klar ist, bietet die Realität in der Ukraine der Schweiz freilich überhaupt keine Möglichkeit, effektiv neutral zu bleiben: Untersagt sie die Lieferung von Waffen und Munition aus Schweizer Produktion, schwächt das die ukrainischen Truppen. Liefert sie Waffen, stärkt sie die Ukraine gegen Russland. Dazwischen gibt es nichts.
Kommt hinzu, dass die Schweizer Rüstungsindustrie in internationale Produktionsketten eingebunden ist. Und dies mit voller Absicht: Die gegenseitige Abhängigkeit schaffe mehr Sicherheit, so die Überzeugung der Militärstrategen. Das bedeutet in der Konsequenz aber auch: Die Schweizer Rüstungsindustrie ist nicht neutral, sondern fest in die westliche Militärallianz eingebunden. Ein Schweizer Lieferembargo trifft folglich in den wenigsten Fällen nur ein einzelnes Schweizer Produkt, sondern meist auch die ausländischen Partner.
Illustrieren lässt sich das etwa an der Episode mit Deutschland um die Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard. Ein anderes Beispiel ist die Panzerabwehrwaffe NLAW – die «Next Generation Light Anti-Tank Weapon». Ihre Endfertigung erfolgt in Grossbritannien. Der Gefechtskopf aber kommt aus dem Berner Oberland. Wie die Rundschau Anfang April publik machte, wird die Waffe in der Ukraine eingesetzt. Freilich nur mit Material aus früheren Lieferungen.
Denn neue Gefechtsköpfe dürfen nicht in die Ukraine geliefert werden. Ja, das Seco hat beim Ausbruch des Kriegs in der Ukraine die Bestimmungen sogar verschärft: Bis dahin durften Einzelteile einer Waffe aus Schweizer Produktion auch ohne Bewilligung des Bundes weiterverkauft werden. Dies wurde gestoppt, damit kein Schweizer Kriegsmaterial nach Russland oder in die Ukraine gelangt: Das Seco argumentiert:
Wie ist das Dilemma zwischen Neutralitätsrecht und der tatsächlichen Situation in der Ukraine zu lösen? Kaum mit einem Notrechtsbeschluss des Bundesrats, die Waffenlieferungen zu bewilligen, wie das Pfister vorschlägt. Dies wäre nur legitim, wenn eine gesetzliche Grundlage für einen dringend nötigen Entscheid fehlt.
Mit dem Kriegsmaterialgesetz liegt eine solche aber vor. Was es braucht, ist eine vertiefte Debatte des Parlaments. Es muss entscheiden, was wichtiger ist: Das strikte Festhalten an der rechtlichen Neutralität gemäss Haager Abkommen von 1907 – oder die «Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken», wie es in der Präambel der Bundesverfassung heisst.
Konsequent wäre es auf diese Produktion hier zu verzichten, was aber dann die rechtsbürgerlichen Lobbyisten und Econoimiesuisse mit dem Scheinargument von dem Verlust von Arbeitsplätzen wieder auf den Plan rufen würde.
Schön zeigt nun diese Situation die Scheinheiligkeit gewisser Politiker auf, indem man zwar autoritäre Agressoren wie Saudi-Arabien ohne weiteres mit Waffen beliefert, aber anderen das Recht auf Selbstverteidigung verwehrt
In Zeiten von Cyber War und Wirtschaftskriegen steht die Grundsatzdebatte welcher Art Neutral die CH sein will schon lange im Raum.