Wer nach Winnizja fährt, fühlt sich sofort an Zürich erinnert. Es ist nicht die dumpfe Sowjetarchitektur der Vorstädte, die diesen Eindruck vermittelt, sondern das Strassenbild. Parallel zum Asphalt verlaufen Gleise, und eine Zeit lang fährt das Auto neben einem Tram 2000 in den Farben von Zürich. Nur das Wappen der Limmatstadt und das Emblem der Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) wurden entfernt.
Während die Strassenbahn in eine Haltestelle einfährt, kommt auf dem Gegengleis ein älteres Mirage-Tram entgegen, ebenfalls in Züri-Blau. Die Stadt ist voll von Rollmaterial, das früher an der Limmat unterwegs war, dann ausrangiert wurde und nun am südlichen Bug weiterhin gute Dienste leistet.
Der Fluss trennt Winnizja in zwei Hälften. Um ihn zu überqueren, fahren die Züri-Trams an der Verklärungskathedrale vorbei und traversieren polternd die Zentralbrücke. Danach kommt die Haltestelle Siegesplatz, wo im Sommer 2022 drei russische Marschflugkörper explodierten und 28 Menschen in den Tod rissen. Winnizja ist weit entfernt vom unmittelbaren Kriegsgeschehen, dennoch gibt es immer ein gewisses Risiko, dass russische Raketen oder Drohnen explodieren.
Auch wenn die Nachrichten von der Front derzeit nicht gut sind, geht das Leben weiter. Die Menschen müssen zur Arbeit, zur Schule, einkaufen, Verwandte und Freunde besuchen. Und die weniger Wohlhabenden, die kein Auto besitzen, benutzen dafür die blau-weissen Fahrzeuge.
Wie aber sind die Trams aus der Limmatstadt überhaupt in die Ukraine gekommen? Schon 2006, also lange vor der russischen Invasion, haben die Schweiz und die Ukraine ein entsprechendes Projektabkommen unterzeichnet. Federführend war dabei das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) in Bern, während die VBZ ihr altes Rollmaterial und technische Expertise zur Verfügung stellten. Glücklicherweise ist Winnizja eine der wenigen ukrainischen Grossstädte, die nicht die sowjetische Breitspur benützen, sondern Tramgleise mit einer Spurweite von 1000 Millimetern - wie in Westeuropa üblich.
Seit 2007 wurden 88 Motorwagen und 28 Beiwagen der Typen Mirage und Karpfen nach Winnizja verfrachtet. Während der Karpfen noch Ende der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts produziert wurden, stammen die Mirages aus den Sechzigerjahren. Beide Modelle wurden in der Schweiz hergestellt. Heute bilden die 60-jährigen Mirages das Rückgrat der Tramflotte in Winnizja. Hätte man die Fahrzeuge verschrottet, wären die Kosten etwa gleich hoch ausgefallen wie der Transport mit der Eisenbahn in die Ukraine, gaben die VBZ noch 2007 zu Bedenken.
Doch damit nicht genug: 2021 wurde beschlossen, auch ausrangierte Tram 2000 der VBZ nach Winnizja zu liefern. Diese wurden zwischen 1976 und 1992 ebenfalls in der Schweiz hergestellt, und einige von ihnen fahren auch heute noch auf den Zürcher Tramgleisen. Die russische Invasion im Februar 2022 machte aber vorerst einen Strich durch die Rechnung. Erst im März 2023 gelangten dann die ersten Trams 2000 nach Winnizja.
Für eine Teilstrecke wurden sie auf die Eisenbahn verladen und dann auf spezielle Sattelschlepper. Mit diesen wurden sie in der Ukraine über die Karpatenausläufer bis zum südlichen Bug transportiert. Inzwischen sind 28 Stück ausgeliefert. Acht weitere Fahrzeuge sollen folgen, wie die VBZ auf Anfrage mitteilten. Wie schon bei den Mirages und Karpfen wurden Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe Winnizja während eines mehrwöchigen Praktikums in Zürich geschult, damit sie die Trams 2000 korrekt warten und instandhalten können.
Der erste Versuch, ein Züri-Tram in Winnizja zu besteigen, scheitert. Der Chauffeur schliesst die Tür vor meiner Nase. Auch das erinnert an Zürich. Ein grosser Unterschied ist hingegen das Fehlen von Billetautomaten an den Haltestellen.
Bezahlt wird ausschliesslich digital, an gelben Kartenlesern in der Strassenbahn. Akzeptiert werden die Abokarten der Verkehrsbetriebe und Kreditkarten. Es gibt auch keine komplizierte Tarifstruktur wie in Zürich, wo ausländische Touristen deswegen regelmässig in die Verzweiflung getrieben werden. Der Einheitstarif beträgt umgerechnet rund 20 Rappen. Der gleiche Preis wird für grosse Gepäckstücke verlangt.
Einzelne Kartenleser spucken auch ein Billet aus. Auf meinem lässt sich in kyrillischen Buchstaben das Wort «Marschroute 4» ablesen. Das ukrainische Wort für «Tramlinie» kommt ursprünglich aus dem Französischen. Auch in Russland wird es verwendet, häufig für Minibusse und Sammeltaxis, die jeweils eine bestimmte Route befahren.
Auf im Innern der Strassenbahnen angebrachten Klebern wird mit einem weiteren deutschen Wort vor Schwarzfahren gewarnt: Die kyrillisch buchstabierte «Straf» beträgt umgerechnet vier Franken, auch für den Fall, dass man zum Beispiel für einen Reisekoffer keine Billet gelöst hat. Tatsächlich werde ich schon bei meiner zweiten Fahrt von einer Mitarbeiterin der Verkehrsbetriebe mit strengem Blick kontrolliert.
Das Motorengeräusch und die manchmal zu hörende Klingel der Mirage-Triebwagen weckt längst vergessen geglaubte Erinnerungen an das Leben in der Limmatstadt. 44 Jahre lang gehörten die Mirages zum Stadtbild von Zürich. Die Holzschalensitze sind kalt, nur unter vereinzelten Sitzplätzen sind Heizkörper angebracht. Doch sie reichen nicht aus, um der nassen Kälte von Winnizja Herr zu werden.
Die Scheiben der Strassenbahn sind komplett beschlagen. Die meisten Passagiere tragen dicke Winterkleider und Kopfbedeckungen. Um hinauszuschauen, wischen manche mit dem Mantelärmel das Kondensat auf den Fenstern weg. Weil viele Zürcher den schon fast legendären Schalensitzen der Mirages nachtrauerten, sind die neusten Trams der VBZ übrigens wieder mit Holzsitzen ausgerüstet.
An einer Endstation im Westen Winnizjas wimmelt es von Mirages, neben einem einsamen Tram 2000. Letzteres ist gut beheizt, und die Verglasung bietet klare Sicht nach aussen. Auf dem Rückweg, kurz nach der Verklärungskathedrale kreuzt uns eine weitere Mirage, deren Heck rot gefärbt ist, mit einem grossen Schweizerkreuz mittendrin. Auf den Seiten steht auf Ukrainisch und Deutsch «Winnizja dankt der Schweiz für die Unterstützung der Ukraine». Dieses Tram wurde beim Angriff der russischen Marschflugkörper im Sommer 2022 beschädigt.
Als wir den Siegesplatz überqueren, wo damals die 28 Menschen ums Leben kamen, sind die Spuren der Tragödie immer noch sichtbar. Das «Haus der Offiziere», Ziel des Angriffs, ist geschlossen und von einer hohen Absperrung umgeben. Die zum Teil ausgebrannten Fensterhöhlen haben die Ukrainer mit Spanplatten verdeckt. Der neoklassizistische Bau mit vier protzigen Säulen im Eingangsbereich stammt noch aus der Zeit des sowjetischen Diktators Stalin.
Das «Haus der Offiziere» diente allerdings schon lange nicht mehr der Armee, sondern wurde in den letzten Jahren für kulturelle Veranstaltungen genutzt. Ein Hochhaus, das sich nur ein paar Schritte entfernt befindet, wurde ebenfalls weitgehend zerstört. Das Denkmal zur Erinnerung an die Gründung der ukrainischen Luftwaffe mit einem alten Mig-21-Kampfjet aus Sowjetzeiten blieb dagegen unversehrt.
An der Wand der Fahrerkabine des Trams 2000 haben die VBZ ein Typenschild angebracht. Demnach wurde der Triebwagen im März 1978 in Betrieb gesetzt und letztmals im Oktober 2012 in Zürich einer Revision unterzogen. Daneben sind die drei Schweizer Herstellerfirmen Schindler, BBC und SIG aufgeführt.
Auch in einer Mirage findet sich ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten: Hinter dem letzten Holzsitz ist im Heck eine leere Box angebracht, in der früher die Gratiszeitung «20 Minuten» auflag. Der ungenutzte Behälter ist schon arg zerkratzt, aber man kann den Spruch «Montag bis Freitag finden Sie hier Ihre Lektüre» immer noch gut lesen. Zumindest in Winnizja hat «20 Minuten» aber ausgedient.
Die Lieferung der letzten Trams 2000 ist noch nicht ganz abgeschlossen. Die Geschenkaktion erfolgt im Rahmen der Entwicklungshilfe des Seco . Das Staatssekretariat hofft, dass die Bewohner von Winnizja die Strassenbahnen noch 12 bis 15 Jahre lang benützen können. Es wäre eine Verschwendung gewesen, die noch gut funktionierenden Trams zu verschrotten, während es in der Ukraine an allen Ecken und Enden an Transportmitteln fehlt.
Auch von privater Seite gespendete Occasionsfahrzeuge wie Krankenwagen, Transporter und Geländefahrzeuge sind überall in der Ukraine anzutreffen. Viele von ihnen sind immer noch mit ausländischen Kennzeichen unterwegs – darunter auch so manches Schweizer Nummernschild.
Ich finde das gut dass solches Gerät noch weitere Verwendung findet.