Die Wädenswilerin Eva Samoylenko-Niederer, 41, hat 2006 die Leitung des Kinderheims Segel der Hoffnung in der ostukrainischen Stadt Slowjansk übernommen. Das Kinderheim dient inzwischen als Durchgangszentrum für Geflüchtete. Eva selbst ist mit ihren drei Töchtern in den Westen der Ukraine geflohen und berichtet in ihrem Kriegstagebuch für diese Zeitung regelmässig über ihre Erfahrungen.
Eva Samoylenko-Niederer: Gut, auch wenn das blöd tönt. Irgendwann gewöhnst du dich an alles.
Ja. Man erzählt sich hier mit bitterem Humor: «Zuerst arbeitest du, so lange du kannst, dann so lange du musst.» Wenn ein Kampfjet durchfliegt, weisst du irgendwann: Die nächsten 15 Minuten musst du dich verstecken. Irgendwann reagiert der Körper nicht mehr auf jede Explosion mit einem Adrenalinschub, sondern mit Entspannung. Das ist wohl eine Überlebensstrategie.
Es ist emotional extrem schwierig. Etwa dann, wenn wir von der Kirchgemeinde, die uns aufgenommen hat, etwas Feines zum Essen oder Kleider erhalten und wissen, dass wir eigentlich dankbar sein sollten. Aber ein Teil in dir drin will nicht dankbar sein. Denn sobald du dankbar bist, akzeptierst du, dass dein altes Leben, das, was du früher hattest, nicht mehr existiert.
Ich telefoniere täglich mehrere Stunden mit Menschen, die nicht fliehen wollen, und flehe sie an zu gehen. Viele haben panische Angst, können keine Entscheidungen treffen, sind völlig überfordert und bleiben dann einfach, wo sie sind.
Anfänglich hatten wir im Donbass alle das Gefühl: Krieg? Das haben wir doch alles schon erlebt, das haben wir hier seit 2014. Wir haben nicht realisiert, was da auf uns zukommt: bombardierte Spitäler, niedergebrannte Schulen, zerstörte Städte. Heute wissen wir, dass 2014 nichts war im Vergleich zu dem, was jetzt passiert. Diese Gewalt, diese Brutalität ist völlig jenseits aller Menschenrechte und Kriegsgesetze.
Ich wollte anfänglich unbedingt da bleiben, um zu helfen. Ich war bereit, dafür zu sterben. Erst, als ich gesehen habe, was das mit meinen Töchtern macht, habe ich mich umentschlossen. Ich habe mir eingeredet, ich könne stark bleiben. Aber wenn du siehst, wie dein Kind bei jedem Schuss draussen zusammenzuckt und weint, dann hältst du das kaum aus. Wenn eine meiner Töchter wegen meiner Sturheit verletzt oder getötet worden wäre, dann hätte ich mir das nie verzeihen können.
Das kann ich kaum in Worte fassen. Ich will gar nicht darüber nachdenken. Aber: Ich bin so stolz auf ihn. Er hat mir vor unserer Flucht gesagt: «Wenn du mich liebst, dann bring unsere Kinder in Sicherheit. Ich kann alles durchstehen, wenn ich weiss, dass ihr in Sicherheit seid.» Ich habe mehrmals mit Männern telefoniert, die ihre Frauen nicht gehen lassen wollen, weil sie sagen: «Wer kocht dann hier für mich?» Es ist wirklich tragisch. Andrej ist inzwischen aber auch in der Westukraine im Dienst. Als gläubiger Christ muss er zum Glück nicht mit der Waffe an die Front, sondern kann im Logistik-Bereich seine Pflicht tun.
Genau. In der Stadt Dnipropetrowsk mussten wir acht Stunden Schlange stehen. Wir haben Hunderte Familien beobachtet, die Abschied nehmen mussten von ihren Männern, Vätern und Söhnen. Diese letzten Umarmungen zu sehen: Das habe ich fast nicht ausgehalten. Eine Freundin musste ihren 18-jährigen Sohn zurücklassen. Stell dir das mal vor…
Wenns hart auf hart kommt, dann passt alles, was man wirklich braucht, in einen Rucksack. Das war wichtig, weil wir wussten, dass wir in all dem Gedränge an den Bahnhöfen die Hände freihaben müssen, um uns aneinander festhalten zu können. Wir haben uns warm angezogen, eine Ersatzwäsche und ein Pyjama eingepackt. Jedes Kind durfte ein Spielzeug mitnehmen – und natürlich alle Farmer-Stängel und Mini-Pic, die uns meine Mutter bei ihrem letzten Besuch mitgebracht hatte.
Dieser Hass auf uns muss in Russland über Jahre kultiviert worden sein – und wir haben nichts davon mitgekriegt. Das erinnert mich an die Geschichtsstunden in der Schule, wo wir uns gefragt haben, wie das damals im Zweiten Weltkrieg in Deutschland so weit kommen konnte. Wieso hat niemand im Voraus was gemerkt? Wieso hat niemand was gemacht? Genau diese Fragen stellen sich heute erneut.
Dass Geld zu haben absolut wertlos ist. Schau an, was mit der Ukraine passiert: Alles wird zerstört. Irpin, der Vorort von Kiew, wo diese eine Familie auf der Flucht von einer Granate getötet und danach fotografiert worden ist, das war einer der reichsten Orte im ganzen Land, wie die Goldküste in der Schweiz. Geld schützt niemanden.
Ich will das Land nicht verlassen, weil ich merke, wie viel ich hier mit meinen Helfern bewirken kann. Ich will etwas dazu beitragen für den Sieg dieses Landes, das ich liebe. Ich habe meinen Kindern aber versprochen, dass sie keine Explosionen miterleben müssen. Sobald der Krieg so nahe kommt, dass wir Explosionen oder Schüsse hören, dann gehen wir.
Kong
G. Laube
Fischra