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Gaza: Chef von Ärzte ohne Grenzen appelliert an die Schweiz

Interview

«Not in Gaza wird immer grösser»: Chef von Ärzte ohne Grenzen appelliert an die Schweiz

Seine Kollegen pflegen im zerbombten Gaza Verwundete: Der Präsident der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, Christos Christou, spricht über die Folgen von Israels neuester Offensive und seine Hoffnung.
08.12.2023, 07:3108.12.2023, 12:54
Julian Spörri, Genf / ch media
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Palästinenser kommen beim Nasser-Spital in Chan Junis an, 5. Dezember.Bild: keystone

Eine Woche lang ruhten die Waffen zwischen Israel und den Hamas. Seit sieben Tagen ist der Krieg zurück – heftiger denn je. Israels Militär sprach am Dienstag vom «intensivsten Tag seit Beginn der Bodenoffensive». Besonders der Süden des Gazastreifens gerät in den Brennpunkt: Teile der Bevölkerung wurden aufgerufen, die Stadt Chan Junis im südlichen Teil des Gazastreifens Richtung Westen und Süden zu verlassen – obwohl viele bereits eine Flucht aus dem Norden Gazas hinter sich haben. Dort nahm die israelische Bodenoffensive als Reaktion auf das Hamas-Massaker von Anfang Oktober ihren Anfang.

Während einige Hilfsorganisationen Gaza verlassen haben, blieb die Nichtregierungsorganisation Ärzte ohne Grenzen vor Ort aktiv. Fünfzehn internationale und rund 220 palästinensische Mitarbeitende behandeln Verwundete in Spitälern. CH Media sprach mit dem internationalen Präsidenten der Hilfsorganisation, dem Griechen Christos Christou, am Hauptsitz in Genf über die aktuelle Entwicklung. Er ist eben aus Israel zurückgekehrt.

Welche Konsequenzen hat die israelische Offensive im Süden auf die humanitäre Lage in Gaza?
Christos Christou:
Was wir heute im südlichen Gazastreifen erleben, widerspiegelt, was wir in den letzten Wochen im Norden erlebt haben. Die Bombardierung zwingt die Menschen, sich auf ein immer kleineres Gebiet zu zwängen. Die Not wird jeden Tag grösser: Die Nahrungs- und Wasservorräte gehen zur Neige. Die Menschen verbringen die Nacht im Zelt auf der Strasse. Am nächsten Tag müssen sie vielleicht schon wieder umziehen, weil sie gewarnt wurden, dass auch dieser Ort bombardiert wird. Kurzum: Die Situation geht weit über eine humanitäre Krise hinaus. Es ist eine humanitäre Katastrophe.​

International President of MSF Christos Christou, left, speaks next to Greek journalist Panos Charitos, during a news conference organised by the Doctors Without Borders, in Athens, on Thursday, Nov.  ...
Christos Christou, der oberste Arzt ohne Grenzen.Bild: keystone

Wie wirken sich die heftigen Gefechte im Süden auf die Arbeit Ihrer Ärztinnen und Ärzte aus?
Im Süden sind wir aktuell vor allem im Nasser-Spital präsent. Nur sehr wenige medizinische Einrichtungen sind noch in Betrieb. Sie sind mit verletzten Patienten überlastet. Zudem haben wir kaum mehr Materialvorräte. Die Feuerpause hat uns ein wenig Luft verschafft. Es gelang, einige medizinische Hilfsgüter zu beschaffen. Aber sie reichten nicht einmal dafür aus, die bereits vorhandenen Verletzten zu versorgen. Ihre Zahl wächst täglich.​

Anfang der Woche forderten Sie in einem offenen Brief an den UNO-Sicherheitsrat einen «sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand». Wie gross sind Ihre Hoffnungen?
Persönlich habe ich in dieser Welt aufgehört, optimistisch zu sein. Aber was ich noch habe, ist Hoffnung. Das ist es auch, was meine Kolleginnen und Kollegen im Gazastreifen dazu bringt, den Menschen weiterhin vor Ort beizustehen – nebst der Pflicht eines jeden Arztes, seine Patienten nicht im Stich zu lassen.​

Ärzte ohne Grenzen hat sich auch mit einem Brief an Ignazio Cassis, den Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), gewandt. Darin wird die Frage aufgeworfen, ob die Schweiz genug tue, um zu einem Ende des «Blutvergiessens» in Gaza beizutragen. Tut sie das?
Wir haben in vielen Ländern Briefe verschickt und wollen nicht mit dem Finger auf bestimmte Regierungen zeigen. Wir fordern sie alle dazu auf, ihr Bestes zu geben. Die Frage, die wir an Herrn Cassis gerichtet haben, ist die Frage, die sich alle stellen müssen: Tun wir genug? Ich denke, die Schweiz sollte mit ihrer Geschichte als Verteidigerin der internationalen Menschenrechte eine starke Position einnehmen, um die Regierungen dieser Welt daran zu erinnern, dass auch im Krieg Regeln gelten.​

Wie soll sich die Schweiz als temporäres Mitglied im UNO-Sicherheitsrat verhalten?
Ich kann nur sagen, dass der UNO-Sicherheitsrat seine Position überdenken und Druck auf Israel machen muss, damit die tödlichen Angriffe auf die palästinensische Zivilbevölkerung stoppen. Er muss eine bindende Resolution ausarbeiten.​

Keine Gelder der Schweiz – trotz Vertrauen des Bundes
Wegen der «äusserst besorgniserregenden humanitären Lage» im Nahen Osten beantragte der Bundesrat dem Parlament Anfang November weitere 90 Millionen Franken zur Unterstützung der Region. Auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen sollte von den Geldern profitieren – im Gegensatz zu drei palästinensischen Organisationen, denen der Bund wegen der Nähe zur Hamas das Vertrauen entzog. Ärzte ohne Grenzen habe die Finanzmittel jedoch von sich aus abgelehnt, weil sie in laufenden Konflikten wie im Nahen Osten keine Gelder von staatlichen Gebern annehme, heisst es beim EDA. Der 90-Millionen-Zusatzkredit wurde vom Parlament bewilligt und soll bis Ende Jahr ausgegeben werden. (jus)

Was fordern Sie von der Gegenseite Israels, den Hamas?
Wir fordern von allen Parteien, die Regeln des Krieges zu respektieren und die internationalen Menschenrechte einzuhalten. Es ist der einzige Rahmen, in dem eine Organisation wie Ärzte ohne Grenzen arbeiten kann.​

Israel wirft der Hamas vor, Zivilisten und Krankenhäuser als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Trifft dieser Vorwurf in Ihren Augen zu?
Wenn ich die Angriffe in diesen Tagen sehe und wie viele Zivilisten den Preis für den Krieg zahlen mussten, habe ich das Gefühl, dass der gesamte Gazastreifen zu einem menschlichen Schutzschild geworden ist. Aber was ich in den Spitälern sehe, sind die unzähligen Verwundeten sowie das erschöpfte medizinische Personal. Klar versucht sich eine grosse Anzahl Menschen in den Krankenhäusern in Sicherheit zu bringen. Rechtfertigt diese Situation einen Angriff auf ein Spital, durch irgendeine Seite? Nein.​

Sie sehen keinen Grund, der einen Angriff auf ein Spital legitimieren könnte?
Richtig. Ich habe Angst, dass dies einen Präzedenzfall schaffen würde und wir in Zukunft nie wieder in der Lage wären, Spitäler und das Grundrecht eines jeden Menschen auf medizinische Versorgung zu schützen. (aargauerzeitung.ch)​

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201 Kommentare
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Binninger
08.12.2023 10:10registriert Februar 2022
Ach er macht seine Job. Klar ist es eine Schweinerei unter einem Spital Waffen etc. zu lagern ich würde mal sagen die Hamas macht das einfach und wer was sagt, fängt sich eine Kugel ein. Die Hamas und die Siedler sind das Problem. Beiden Seiten werden immer wieder Unschuldige opfern, fuer Ihre Sache. Respect vor dem medizinischem Personal.
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Dominik Egloff
08.12.2023 09:55registriert November 2015
"Klar versucht sich eine grosse Anzahl Menschen in den Krankenhäusern in Sicherheit zu bringen. Rechtfertigt diese Situation einen Angriff auf ein Spital, durch irgendeine Seite?"

Nochmal ein Beispiel für üble Propaganda. Er unterstellt damit den Israelis, dass ihr Motiv ein Krankenhaus anzugreifen nur darin besteht, dass sich dort viele Zivilisten aufhalten, und diesen dann durch den Angriff Gewalt angetan werden soll.
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Greoltb
08.12.2023 18:39registriert März 2023
Nochmals für alle die sich lieber die Augen verschliessen und hier mächtig Israel's Propaganda verbreiten. Auch für alle Bot's die fieberhaft Herzen und Blitze verteilen.
https://www.srf.ch/news/international/genfer-konventionen-das-humanitaere-kriegsvoelkerrecht-steht-unter-druck
Kriegsvölkerrecht wird seit Jahren mit Füssen getreten und das dürfen wir nicht gutheissen. Ob Russland, USA oder andere die Übeltäter sind ist mir egal. Die gehören ALLE verurteilt. Hier sind ganz klar Hamas und Israel Bedingungslos zu verurteilen.
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