Die SVP selber spricht von der «Nachhaltigkeitsinitiative». So hat sie der Zürcher Nationalrat Thomas Matter am Samstag in seinem Referat am SVP-Parteitag genannt. Die Initiative fordert Sofortmassnahmen, wenn die Einwohnerzahl der Schweiz 9.5 Millionen überschreitet. Und bis 2050 darf die ständige Wohnbevölkerung die Grenze von 10 Millionen nicht überschreiten. Sonst müsse der Bund «bevölkerungswachstumstreibende» Verträge kündigen – «inklusive ein allfällig abgeschlossener UNO-Migrationspakt und das Personenfreizügigkeitsabkommen», sagte Matter.
Am Dienstag hat die Partei die Initiative den Medien in Bern vorgestellt. In Wirtschaftskreisen sorgt sie freilich schon seit Tagen für Diskussionen. So erklärte der langjährige Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt bereits vor einer Woche: «Wenn diese Initiative ankommt, dann haben wir definitiv ein Problem». Diese Initiative werde der Wirtschaft «massiv schaden».
Denn für die Wirtschaftsverbände ist klar: Die Schweiz ist in den kommenden Jahren stark auf die Zuwanderung angewiesen. Die starken Jahrgänge der Babyboomer gehen in Pension. Die frei werdenden Stellen können längst nicht alle mit Personen aus dem Inland besetzt werden, selbst wenn etwa dank Digitalisierung die Produktivität zunimmt und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie weiter gefördert wird.
«Können wir die offenen Stellen nicht mehr besetzen, müssen wir mit Wohlstandseinbussen rechnen», sagt Monika Rühl, Direktorin des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse. Die Schweiz sei deshalb auf die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt angewiesen - also genau auf jene Zuwanderung, welche die Personenfreizügigkeit ermögliche: «Aus der EU kommen 80 Prozent, um selber zu arbeiten, nur 20 Prozent sind Familiennachzug», sagt sie.
Für Rühl und ihren Wirtschaftsdachverband steht die neue SVP-Initiative gerade nicht für Nachhaltigkeit: «Wir nennen sie Kündigungsinitiative 2.» Dies in Anlehnung an den Abstimmungskampf gegen den letzten Angriff der SVP auf die Personenfreizügigkeit, die Begrenzungsinitiative. Diese wurde 2020 als «Kündigungsinitiative» mit Erfolg bekämpft. 61.7 Prozent der Stimmenden lehnten sie ab. «Auch jetzt geht es im Kern wieder um die Kündigung der Personenfreizügigkeit», sagt Rühl.
Allerdings ist die neue Initiative geschickt konstruiert. Das zweistufige Vorgehen, wonach bei 9.5 Millionen zunächst Sofortmassnahmen ergriffen werden müssen und die Personenfreizügigkeit erst bei 10 Millionen Menschen gekündigt werden soll, lässt sich als «Zuwanderungsbremse» verkaufen. Das erinnert an die im Volk breit anerkannte Schuldenbremse. Und mit der Jahrzahl 2050, bekannt auch als Zieljahr der Energiewende, erweckt die SVP den Eindruck, dass nicht sofort gehandelt werden müsste. Was wohl kaum stimmt. Bevölkerungsszenarien des Bundes gehen mehrheitlich davon aus, dass die 9.5- beziehungsweise 10-Millionen-Schweiz wohl schon vor 2040 Realität werden dürfte.
Mit dem Titel «Nachhaltigkeitsinitiative» ziele die SVP auf das politische «Top-Thema», den Klimawandel, sagt Lukas Golder von GfS Bern: «Hier halten gemäss Umfragen die meisten Leute Lösungen für dringlich.» Die SVP reagiere darauf, «indem sie eine Lösung anbietet, die in ihrem eigenen Milieu und darüber hinaus auch in einem grün-konservativen Umfeld auf Zustimmung stösst: Mit der Begrenzung der Migration». Die Partei versuche damit im Wahlkampf mehr Leute anzusprechen als bloss ihre bisherige Wählerschaft, sagt der Meinungsforscher: «Sie will im Direktkontakt im Strassenwahlkampf Unterschriften mit einem Thema sammeln, bei dem ihr viele Konservative Lösungen zutrauen».»
Der Politologe hält die Initiative für zurückhaltender formuliert als ihre Vorgängerinnen, die Masseneinwanderungsinitiative von 2014 und die Begrenzungsinitiative 2020. Es werde interessant sein zu sehen, ob die SVP die Initiative im Parlament als Pfand für einen indirekten Gegenvorschlag auf Gesetzesstufe einsetzen werde oder ob sie dereinst in einer Abstimmung aufs Ganze gehe.
In diesem Fall dürfte die Gegnerschaft die gleiche sein wie 2020 bei der Begrenzungsinitiative: Damals bekämpfte die Allianz «Stark und vernetzt» diese erste «Kündigungsinitiative»; dazu zählten mehrere Parteien, Verbände, grosse Unternehmen und Organisationen.
Auch dabei: die Operation Libero. Sie ist auch jetzt bereits am Start: Am grossen Wahlkampfanlass der SVP werde sie Ende August in Zürich 4000 Kondome unter dem Slogan «Poppen gegen Ecopop» verteilen, berichtete der «Blick». Denn wie bei der Ecopop-Initiative 2014, die mit Nachhaltigkeit argumentierte und mittels Geburtenkontrolle das Bevölkerungswachstum begrenzen wollte, handle es sich um «fremdenfeindliche Schein-Ökologie», schreibt die Operation Libero.
Stefan Schlegel, Vorstandsmitglied der Operation Libero, kritisiert die neue Initiative zudem als inhaltlich schlicht falsch: «Indem es im Initiativtext heisst, Verträge wie der UNO-Migrationspakt seien allenfalls zu kündigen, will die SVP Fake-News in die Verfassung schreiben», sagt er. «Denn der Migrationspakt ist kein Vertrag, den man kündigen kann, sondern nur eine UNO-Resolution – der die Schweiz notabene gar nicht zugestimmt hat.»
Wer etwas Wert auf die Umwelt legt ist auch gegen mehr Menschen. 9 Millionen sollte die obere Grenze sein. Ansonsten können wir den Wald bald in der Virtuellen Welt anschauen...
Kann Spuren von Ironie enthalten.