*Der Text entspricht Christians Erzählungen. Diese wurden übersetzt und von der Journalistin textlich wiedergegeben.
Ich bin in der Walliser Gemeinde Bouveret geboren, im Oktober 1972. In meinem Leben gab es einen Schlüsselmoment. Das war die Trennung von meiner Frau. Ich fiel in eine tiefe Depression, hing aus lauter Antriebslosigkeit meinen Job an den Nagel. Von da an hatte ich Anspruch auf die soziale Mindestsicherung RSA (Revenu de solidarité active), für mich sind das rund 500 Euro im Monat. Mein damaliger Mietzins betrug 700 Euro.
Lange Rede, kurzer Sinn: Vor zwei Jahren, am 17. April 2015, bin ich aus meiner Wohnung geschmissen worden. Und habe so mein Leben auf den Pariser Gassen begonnen.
Zum Glück fand ich schnell copains, die mir beibrachten, wie man dieses Leben meistert.
Ein Freund beeindruckte mich besonders. Er schaffte es immer, einen kleinen Job zu finden, und sich so über Wasser zu halten. Ich hingegen fand niemanden, der mich anstellen wollte. Irgendwann erklärte er mir, er nutze Twitter für seine Jobsuche. Mein Kollege publizierte dort jeweils Posts in denen er schrieb, dass er Zeit zum Aushelfen habe – und es funktionierte.
Agression... Mon pote a pris cher.. La nuit dernière, sans pouvoir se défendre, il s'est fait agressé... La triste réalité... La rue... pic.twitter.com/EZY3JU5xsP
— Page (@Pagechris75) 2. April 2017
Das faszinierte mich. Ich war überzeugt, dass man Twitter auch nutzen konnte, um auf das Schicksal von uns Obdachlosen aufmerksam zu machen. Ein Smartphone hatte ich bereits, und mit dem Geld von der RSA auch das Budget für ein 5-Euro-Abonnement mit Internetzugang. Also eröffnete ich im April 2016 meinen Twitter-Account. Seither führe ich dort eine Art Tagebuch, angereichert mit Kommentaren zu Aktualität und Politik.
Am Anfang lief es harzig, meine Tweets wurden nicht gross beachtet. Das blieb so bis zu einer eisigen Nacht im Dezember.
Damals schliefen ich und mein guter Freund Ervé vor einem Jugendzentrum im dixième arrondissement. Am Morgen spritzte uns ein Mitarbeiter des Zentrums mit einem Gartenschlauch mit voller Wucht ab – was für ein connard. Ich zückte mein Handy und fotografierte unsere durchnässten Schlafsäcke. Dann twitterte ich das Bild. Es wurde über 400 mal retweetet. Am nächsten Tag rief sogar die Stadtverwaltung an und schickte zwei Beamte mit Decken zu uns. Das hat mir viel bedeutet.
Ab dann folgten mir plötzlich Hunderte, später Tausende Menschen auf Twitter, und Pariser Journalisten kontaktierten mich für Interviews. Seit Anfang der Präsidentschaftskampagne kann ich in der Zeitung Libération alle zwei, drei Wochen meine Meinung zu den Wahlen kundtun. Das wird dann in einem Dossier mit Namen France invisible veröffentlicht.
Weisst du, ich habe diese vielleicht illusorische Überzeugung, dass ich mit meinen Beiträgen – sei es in den traditionellen Medien oder auf Twitter – etwas verändern kann. Damit sich unsere Lebensumstände verbessern.
Vor allem Leute wie François Fillon gehören angeprangert. Wie kann es sein, dass Monsieur Anzüge im Wert von mehreren Tausend Euro trägt, aber es in Frankreich 143’000 Menschen gibt, die kein Dach über dem Kopf haben? Zum Glück gibt es Hilfsorganisationen, die uns mit Essen und Hygieneartikel versorgen. Der Staat aber lässt uns im Stich.
En fait, il veut dire, nous allons tous dans le mur😂 URGENT #SDF recherche couches culotte car il se pisse dessus de rire😂😂😂 #RendLargent https://t.co/ia25NOiqCr
— Page (@Pagechris75) 11. April 2017
Immer wieder hört man in den Medien, dass es zwischen der Bevölkerung und der «Elite» eine Kluft gebe. Das stimmt. Hier in Paris habe ich den Eindruck, dass viele genervt sind von dem Wahlkampf. Und auch, dass sie sich nicht getrauen, über ihre Ansichten zu sprechen. Denn die Kampagnen waren zu boulevardesk, die Skandale zu gross. Das macht sich in der Stimmung der Bevölkerung bemerkbar.
Viele sans-abri denken, dass zu viel Staatsgelder an Flüchtlinge gehen. Sie haben das Gefühl, dass man sie, die Franzosen, auf der Strasse, vergisst. Und so wünschen sich die meisten Marine Le Pen als Präsidentin.
Meine Freunde und ich sehen das anders. Nicht die Menschen, die nach Frankreich kommen, um sich vor dem Krieg zu retten, tragen die Schuld an unserer Misere. Schuld ist das Missmanagement der Regierung.
Ich hoffe, Mélenchon gewinnt. Ihn habe ich an Veranstaltungen der Stiftung von Abbé Pierre auch schon getroffen. Wir duzen uns. Ein netter Mann, der uns sans domicile fixe gut tun würde.
Die Chancen von Macron, dem kleinen Prinzen, halte ich für überschätzt. Ihn würde ich auch lieber nicht in der Stichwahl sehen.
Hamon? Der hat die wohl schlechteste Kommunikationsabteilung aller Kandidaten. Er existiert in der ganzen Debatte mittlerweile ja praktisch nicht mehr, dabei war er bei den Vorwahlen des Parti socialiste der Hoffnungsträger vieler Franzosen.
Ouahhh!!! Pour une fois je suis d'accord avec @EmmanuelMacron... En fait, il fait le plus vieux métier du monde... Homme politique😂😂😂😂 https://t.co/dpOkx2rZv1
— Page (@Pagechris75) 24. März 2017
Das Albtraum-Szenario bleibt Le Pen versus Fillon. Wir machen uns doch lächerlich mit solchen Kandidaten. Die respektieren ja nicht einmal die Justiz des Landes, das sie zu regieren anstreben.