Ab Samstag verhandeln zahlreiche Staatschefs auf dem Bürgenstock über einen Frieden in der Ukraine. Der bekannte Historiker Jörn Leonhard sagt, was von diesem Gipfel erwarten kann. Und warum es gefährlich ist, zu viele Erwartungen an einen Frieden zu haben.
Herr Leonhard, Sie forschen über Kriege und wie es wieder zu Frieden kommt. In der Schule musste ich viel über Kriege lernen. Dabei gab es immer einen konkreten Kriegsanfang, der Frieden passierte dagegen meistens einfach so beiläufig.
Es ist sehr viel einfacher, den Anfang von Kriegen zu definieren als ihr Ende. Der Prager Fenstersturz, das Attentat von Sarajewo oder eben der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine sind Beispiele dafür. Das Ende eines Krieges zerfasert dagegen häufig. Der Erste Weltkrieg endete in Osteuropa an manchen Orten schon 1917 und in Südosteuropa zog er sich bis 1923 hin. Wir haben eine Vorstellung davon, was einen Kriegsbeginn auszeichnet, aber die Frage, was Frieden ausmacht, ist viel komplizierter zu beantworten. Ist es das Ende militärischer Gewalt? Ist es die Unterzeichnung eines Waffenstillstandsvertrages? Oder braucht es Generationen, bis die Feindbilder aus den Köpfen verschwinden?
Die Friedensschlüsse, die ich aufzählen könnte, sind meistens jene, bei denen eine Seite klar verloren hat. Muss jemand gewinnen, damit es Frieden geben kann?
Endet ein Krieg durch eine grosse Schlacht, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man ihn auch politisch schnell beenden kann. In der neuzeitlichen Geschichte sind solche grossen Entscheidungsschlachten aber die Ausnahme. Lange Kriege, in denen eine militärische Pattsituation entsteht und bei denen es keinen starken Vermittler gibt, stellen enorme Herausforderungen an die Friedensmacher.
Kurze Kriege gibt es kaum mehr. Gleichzeitig betont bei Kriegsbeginn der Aggressor meist, dass er es schaffen wird, den Feind in wenigen Tagen oder Wochen zu besiegen.
Militärs beziehen in Konfliktsituationen ein Stück weit ihre Legitimation aus dem Versprechen, dass sie aufgrund besserer Technologie, besserer Taktik und besserer Moral in der Lage sind, einen Krieg effektiv und schnell zu beenden. Dieses Muster wiederholt sich seit dem 19. Jahrhundert regelmässig, und es geht regelmässig schief. Der preussische Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz hat es bereits vor über 200 Jahren geschrieben: Jeder einmal ausgebrochene Krieg unterscheidet sich fundamental von jedem geplanten Krieg.
Sind die Versprechungen der kurzen Kriege auch eine Massnahme, um die Bereitschaft im eigenen Land zu fördern?
Das trägt sicher dazu bei, aber es gibt auch die Sehnsucht vieler Politiker nach einer schnellen Lösung. Eine Umstellung auf einen langen Krieg ist mit vielen komplizierten Fragen verbunden: Wie gelingt die Umstellung der Industrie auf Kriegswirtschaft? Wie stelle ich eine faire Verteilung der Opfer und Lasten sicher? Wie erhalte ich die politische Legitimation eines Kriegsregimes? Angesichts dieser Herausforderungen liegt es nahe, zunächst den Militärs zu glauben, die ein schnelles Ende versprechen, weil es keine Antwort auf diese mühsamen Fragen bedingt. Dazu kommt in vielen Fällen, auch in der Ukraine, dass die Aufklärung ganz offensichtlich versagt hat. Denn die Widerstandsfähigkeit des Gegners wurde deutlich unterschätzt.
In der Ukraine sehen wir derzeit ein militärisches Patt, im Westen bröckelt die Solidarität, Russland scheint trotz Sanktionen auch wirtschaftlich auf Kurs. Ist das ein Moment, in dem Frieden passieren kann?
Die Frage ist, was das für ein Frieden wäre. Wenn die konkrete Unterstützung aus dem Westen schwindet, dann müsste die Ukraine wohl einseitige Konzessionen machen in der Hoffnung, so den Aggressor zufriedenzustellen. Also etwa durch das Abtreten von Gebieten und den Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft. Sonst dürfte Russland in der derzeitigen Situation wohl kaum ein Interesse an einem Friedensschluss haben.
Wer Konzessionen macht, signalisiert Schwäche.
Ein Grundproblem der Suche nach Frieden. Das bekannteste Beispiel ist der Konflikt zwischen Rom und Karthago. Die Karthager machten immer weitere Zugeständnisse in der Hoffnung auf einen Frieden, aber genau diese Signale verstärkten die Aggression der römischen Eliten, die glaubten, immer weitergehende Forderungen stellen zu können. Am Schluss stand die Zerstörung eines wehrlosen Karthagos. Oder nehmen Sie die Zugeständnisse, die Grossbritannien und Frankreich gegenüber Nazideutschland in den späten 1930er-Jahren machten. Hitler deutete sie als Zeichen dafür, dass er noch deutlich weiter gehen konnte.
Müsste Europa mehr tun für die Ukraine?
In erster Linie müsste der Westen die der Ukraine gemachten Versprechen einhalten. Dazu gehört die ausreichende Versorgung mit Munition. Solche Versprechen sehenden Auges nicht einzuhalten, ist katastrophal, weil es die Glaubwürdigkeit unterminiert. Und es führt dazu, dass sich die Menschen in der Ukraine im Stich gelassen fühlen. Damit riskiert man den Widerstandswillen im Land. So könnte das Momentum noch mehr auf die russische Seite kippen.
Gibt es auch positive Anzeichen für die Ukraine?
Im Westen setzte man auf einen russischen Wirtschaftseinbruch oder eine zunehmende Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung, wenn nicht gar eine Anti-Putin-Opposition. Bisher gibt es aber trotz enormer Opferzahlen keine solchen Erosionen. Die Zeit arbeitet momentan für Putin, denn in Europa und den USA wird gewählt, und die Unterstützung in den einzelnen Staaten fällt sehr unterschiedlich aus. Vielleicht wird Putin in den nächsten Wochen versuchen, mit Überraschungsoffensiven die relative Schwäche der Ukrainer vorzuführen. Dabei spekuliert er darauf, dass der Druck aus den USA und aus Europa noch grösser wird, um Wolodimir Selenski zu Konzessionen zu zwingen.
Just in dieser Zeit findet nun der Friedensgipfel auf dem Bürgenstock statt. Hat dieser angesichts der Lage in der Ukraine überhaupt einen Sinn?
Bei solchen Konferenzen geht es nie allein um das, was am Ende auf der Pressekonferenz dargestellt wird und in der Erklärung steht. Viel wichtiger ist die Arbeit hinter den Kulissen, also das informelle Ausloten von Positionen, die Suche nach möglichen Ansprechpartnern in Russland und sicheren Kommunikationskanälen. Dafür muss Russland nicht offiziell teilnehmen. Insofern dient diese Konferenz keinem Friedensdurchbruch, aber durchaus einem möglichen Einstieg in ein Ende. Bis es dann tatsächlich so weit ist, kann es aber noch sehr lange dauern. Die Suche nach einer Friedenslösung setzt voraus, dass sich die Akteure kennen und miteinander sprechen.
Warum das?
Selbst wenn es gelänge, die russische Aggression zu stoppen und ein Ende der militärischen Gewalt zu erreichen: In diesem Moment käme es zu einem dissonanten Konzert, bei dem sich der Westen auf eine gemeinsame Position einigen müsste. Ungarn hat beispielsweise ganz andere Erwartungen an einen Frieden als Polen. Wie geht man mit den besetzen Gebieten um? Was passiert mit den Kriegsverbrechen? Wer bezahlt den Wiederaufbau? Je öfter man vor dem Ende eines Krieges über diese Agenden gesprochen hat, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Klärung von Positionen im Vorfeld.
Das klingt auch wie eine Warnung vor zu grossen Erwartungen.
Eine Konferenz macht dann Sinn, wenn man sie nicht mit Erwartungen überfordert. Frieden ist ein Prozess, kein Moment des einen grossen Durchbruchs. Konkret richtet sich die Konferenz jetzt eher an den Westen. Welche Regierungen sind wirklich bereit, die Ukraine wirksam mit Waffen und Munition zu unterstützen?
Also eine Friedenskonferenz, auf der über Kriegsgüter verhandelt wird.
Das ist jedenfalls eine wichtige Gelegenheit dazu. Aber auch andere Themen wird man im kleinen Kreise diskutieren. Etwa: Wer ist nach einem Ende der akuten militärischen Gewalt bereit, sich langfristig in der Region zu engagieren?
Was sind hier die Optionen?
Es ist jedenfalls wahrscheinlich, dass eine US-Regierung die Europäer in stärkere Verantwortung nimmt - ganz unabhängig davon, ob sie von Trump oder Biden angeführt wird. Nachdem die USA der Ukraine im Krieg geholfen haben, müssten die Europäer die Sicherung der Nachkriegsarchitektur übernehmen, etwa mit einer Art Marshallplan für die Ukraine. Das dürfte zu einem Augenblick der Wahrheit für Europa werden.
Wir haben über die mögliche fatale Wirkung von Konzessionen gesprochen. Ist die Konferenz nicht bereits eine solche? Immerhin macht die Schweiz das eigentlich auf Einladung der Ukraine.
Ich glaube, dass Wolodimir Selenski demonstrieren will, dass die Ukraine zu einem Frieden zu ehrlichen Konditionen bereit wäre. Die Konferenz ist insofern weniger an Russland als an Europa und die USA gerichtet. Es geht darum, internationale Aufmerksamkeit für die Ukraine zu erzeugen. In den kommenden Wochen und Monaten werden Europa und Amerika im Kontext der Wahlen vor allem mit sich selbst beschäftigt sein. Da ist es wichtig, noch einmal den Fokus auf diesen Krieg zu legen.
Könnte diese Konferenz überall sein, oder ist es wichtig, dass sie in der Schweiz stattfindet?
Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die Schweiz erfolgreich als Veranstalterin solcher internationalen Konferenzen einen Namen gemacht. Sie gilt als glaubwürdig, sie ist neutral, und sie verfügt über grosse Erfahrungen in der Ausrichtung diplomatischer Gipfel. Die Schweiz gilt hier gleichsam als Goldstandard, auf den sich alle Beteiligten verlassen können.
Aber die Schweiz hat doch eigentlich auch alle Sanktionen gegen Russland übernommen.
Eigentlich steht auch die Schweiz eher auf der Seite der Ukraine. Gleichzeitig ist sie aber nicht Mitglied der Nato und verfolgt keine eigenen militärischen, politischen oder gar territorialen Interessen. Die Schweiz verfügt über einen Status als diplomatischer Vermittler, der auf dem Eindruck ihrer Interesselosigkeit gründet. Insofern ist es wichtig, dass diese Konferenz auf dem Bürgenstock stattfindet und nicht in einem anderen Land.
Eigentlich braucht die Ukraine ja aber vor allem einen Vermittler im Konflikt, und das kann die Schweiz nicht sein.
Vermittler müssen in den Kriegen der Neuzeit nicht nur gute Diplomaten und Gastgeber sein. Sie müssen auch über ein robustes Mandat verfügen, also militärisch in der Lage sein, konkrete Bestimmungen auch durchzusetzen. Im Jugoslawienkrieg etwa machten die amerikanischen Diplomaten unmissverständlich klar, dass die USA bereit waren, das Dayton-Abkommen zur Not auch mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Über die langfristigen Konsequenzen des Abkommens kann man geteilter Meinung sein, aber die ethnischen Säuberungen und die unmittelbare massive Gewalt wurden immerhin gestoppt.
Wer könnte so ein Vermittler im Ukraine-Konflikt sein?
Das macht mir die grösste Sorge, denn ich sehe derzeit niemanden in dieser Position. Anders als in anderen Konflikten haben die USA hier keine Vermittlerposition. Und China kann es aufgrund seiner Unterstützung Russlands nicht sein. Brasilien und Indien streben nach einer solchen Rolle, aber es ist fraglich, ob sie politisch und vor allem militärisch in der Lage sind, einen Friedensvertrag auch tatsächlich durchzusetzen. Ein Vermittler muss die Bereitschaft mitbringen, sich auch längerfristig in einer Konfliktregion zu engagieren. Ohne das Engagement der USA in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg wäre ein stabiler Frieden in Europa kaum möglich gewesen. Dazu kommt ein weiteres Problem: Nach 1945 enden immer weniger Kriege noch mit einem völkerrechtlich verbindlichen Friedensvertrag. Immer mehr Kriege enden mit brüchigen Waffenstillständen, die jederzeit gebrochen werden können. So sinkt die Schwelle zur Fortsetzung der Gewalt – zumal in den immer zahlreicheren Bürgerkriegen.
Auch im Nahen Osten herrscht Krieg. Trotz der verfahrenen Lage scheint dort ein Frieden irgendwie greifbarer als in der Ukraine.
Für diese Region gibt es jahrzehntelange Erfahrungen mit Konflikten. Zudem ist das Gebiet viel überschaubarer, sodass eine international abgesicherte Pufferzone viel einfacher einzurichten wäre – dazu würde selbst die schwache Infrastruktur der Vereinten Nationen ausreichen. In der Ukraine bräuchte es viel mehr Friedenstruppen für eine solche Zone. Und schliesslich existiert für den Nahen Osten mit der Zweistaatenlösung ein konkreter Friedensplan – also ein Anhaltspunkt, über den man diskutieren kann.
Warum ist dieser Konflikt nicht noch weiter eskaliert? Am Anfang gab es ja zahlreiche Drohgebärden der Hisbollah und aus dem Iran.
Im Nahen Osten hat bislang das Abschreckungsprinzip funktioniert. Die Amerikaner haben zwei Flugzeugträger in die Region geschickt und ein Atom-U-Boot bei Tageslicht durch den Suezkanal fahren lassen. Das hat dem Iran eindeutig signalisiert, nicht weiter in den Konflikt einzugreifen. Bis jetzt hat das einigermassen funktioniert – was nicht heisst, dass wir uns langfristig darauf verlassen können.
Zum Schluss: Wenn ich mir Frieden vorstelle, dann habe ich ein sehr romantisches Bild. Etwa, wenn meine Kinder heftig miteinander streiten, sich dann die Hand geben und zwei Minuten später fröhlich zusammenspielen. Solche Frieden gibt es aber nicht in der Kriegsrealität, oder?
Was wir unter Frieden verstehen, hat sich in den letzten 200 Jahren erheblich verändert. Lange Zeit bedeutete Frieden die Abwesenheit militärischer Gewalt. Aber seit der Aufklärung wurde der Begriff immer stärker aufgewertet. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und vor allem nach 1918 und 1945 stand Frieden immer stärker für internationale Standards des Völkerrechts, für Gerechtigkeit gegenüber Opfern und soziale wie politische Stabilität – denken Sie nur an das neue Instrument der internationalen Strafgerichtsbarkeit und die Verfolgung von Kriegsverbrechen. Damit aber steigen auch die Erwartungen an einen Frieden. Oft kann ein Friedensschluss das alles gar nicht leisten. Zu viele Hoffnungen in einen Frieden zu projizieren, erhöht die Gefahr von Desillusionierung und einem Umschlag in neue Revisionismen. So wurde der Frieden nach dem Ersten Weltkrieg zu einem überforderten Frieden, der sich am Ende der 1930er-Jahre als brüchiger Waffenstillstand erwies.
Vielleicht muss jede Generation von neuem lernen, dass Angreifer durch Beute nicht befriedet werden. Und dass "Verhandlungen" oft einfach Kapitulationsverhandlungen waren. Entweder über eine Kapitulation des Angreifers oder über eine der Angegriffenen.
Ein Waffenstillstand bedeutet noch lange keinen Frieden. Auch mit "Minsk I & II" wurden solche von RU nie eingehalten.
Der erste Schritt für einen Frieden ist, wenn der letzte RU-Sdt die UA (in den Grenzen von 1991) verlassen hat.