Seit 2006 veröffentlicht das World Economic Forum (WEF) zur Eröffnung des Jahrestreffens in Davos eine Studie zu den globalen Risiken. «Woran krankt die Welt?», ist darin die zentrale Frage. Und vor allem: «Welche Krankheit führt zu einer grossen Katastrophe?»
Der sogenannte «Global Risk Report», der auf einer Umfrage unter rund 750 Experten basiert, zeigt also mit anderen Worten auf, wo die Gefahren einer globalisierten Welt verborgen sind und wie verheerend es sein kann, wenn die Risiken eintreten.
In den vergangenen Jahren stand die Finanzkrise im Mittelpunkt. Für dieses Jahr warnen die angefragten WEF-Experten jedoch eindringlich vor den Auswirkungen der Flüchtlingskrise. Sie hat, im Zusammenspiel mit anderen Risiken, das Potenzial, andere, möglicherweise noch bedrohlichere Krisen auszulösen. «Die Politik und auch die Gesellschaft als Ganzes müssen sich bewusst sein, was auf uns zukommen könnte – und entsprechend handeln» sagt Cecilia Reyes, die oberste Risikomanagerin der Zurich und Verantwortliche für das Asien-Geschäft der Versicherungsgruppe (Interview am Ende des Artikels).
Die globalen Risiken werden von den WEF-Experten nach einer international anerkannten Methode erfasst: Die 29 in diesem Jahr ermittelten wichtigsten werden in fünf Kategorien (Wirtschaft, Umwelt, Geopolitik, Soziales und Technologie) nach Grad der Besorgnis, Wahrscheinlichkeit und Auswirkungen sowie deren Wechselwirkungen dargestellt. Und dann werden sie in einer Rangliste aufgereiht.
Ziel der Studie ist es, das Bewusstsein für Risiken zu sensibilisieren und die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, Regierungen und der Zivilgesellschaft zu fördern, so die Autoren. Aufgrund der jüngsten Ergebnisse sehen sie dringenden Bedarf dazu: «In der elfjährigen Geschichte des Reports haben wir noch nie so eine breite und starke Zunahme der Risiken gesehen.»
Der «Global Risk Report», der in Zusammenarbeit mit dem Beratungsunternehmen Marsh & McLennan und der Zurich Versicherungsgruppe erarbeitet wurde, hat unter Experten eine hohe Glaubwürdigkeit. Er hat etwa für das Jahr 2007 nicht nur auf die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gefahren aufmerksam gemacht, die in der ungehemmten Globalisierung stecken. Sondern auch den Fokus auf den US-Häusermarkt gelegt und auf die Gefahr einer Korrektur mit enormen Folgen für die Wirtschaft hingewiesen. Wenige Monate später schlitterten die USA aufgrund des Zusammenbruchs ihres Häusermarktes in die schlimmste Krise seit den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts.
In diesem Jahr sehen die befragten Experten die Flüchtlingskrise an oberster Stelle der wahrscheinlichsten Risiken. Im Gegensatz zur Finanzkrise ist hier, kaum verwunderlich, besonders Europa im Fokus. Dies zeigt auch die Aufschlüsselung der der Risiken auf die Regionen auf der Karte (siehe Karte oben).
Die wirtschaftlichen Risiken sind jedoch nicht von der Landkarte verschwunden, auch wenn sie in der Rangliste nicht mehr ganz oben rangieren. Dass jedoch bald eine weltweite Finanzkrise droht, ist nicht mehr so wahrscheinlich wie in vergangenen Jahren. In Europa bleibt lauf den WEF-Experten die hohe Staatsverschuldung und die zunehmende Arbeitslosigkeit sind nach wie vor besorgniserregend.
Kommt hinzu, dass der rasche technologische Wandel auch hier nicht nur Gewinner produziert, sondern auch Verlierer. Aus Sicht der Unternehmen nehmen technologische Risiken einen grösseren Platz ein. Dies nicht nur in den USA oder Japan, sondern laut dem WEF auch explizit auch in der Schweiz. Dabei geht es um das Risiko von Angriffen aus dem Internet, sogenannte Cyberattacken.
Die WEF-Experten warnen in ihrem 98-seitigen Bericht eindrücklich vor den Folgen einer ökologischen Katastrophe. Hier hätte der vergangene UNO-Klimagipfel in Paris zwar gute Ansätze geliefert. Diese reichten nicht: Es gehe jetzt darum, die beschlossenen Massnahmen tatsächlich umzusetzen.
Dies vor dem Hintergrund, dass die Umweltrisiken — der Wassermangel, die Klimaerwärmung, die Nahrungsmittelkrise — nicht nur an der Spitze der als langfristig wahrscheinlichsten Risiken stehen, sondern auch an der Spitze derjenigen Risiken, deren Eintreten den grössten Schaden zur Folge haben könnten. Besonders gefährdet sind hier Asien und die USA. Für die WEF-Experten ist klar, dass vor allem das Zusammentreffen von wahrscheinlichen und potenziell teuren Schäden ein gefährlicher Risikomix sein kann.
In einem separaten Teil geht das WEF auch auf die Frage ein, welche Folgen diese neuen Risiken auf die weltweite Sicherheitslage haben. Der Klimawandel, so kommen die Autoren zum Schluss, könne die bereits schon bedrohliche Situation in gewissen Ländern verschlechtern.
Die oberste Risiko-Chefin der «Zurich» über die WEF-Studie und die Folgen für Politik und Gesellschaft.
Frau Reyes, der Risikoreport,
den die Zurich Gruppe gemeinsam
mit dem WEF jährlich erarbeitet,
zeigt eine Zunahme der
Risiken weltweit. Müssen wir alle
Angst haben?
Cecilia Reyes: Es geht nicht um
die konkrete Gefährdung von Einzelnen.
Deshalb wäre Angst fehl
am Platz. Aber in diesem Jahr nehmen
die Risiken zu, insbesondere
jene, die grosse Schäden anrichten
können. In der 11-jährigen Geschichte
des Reports haben wir
noch nie so eine breite und starke
Zunahme der Risiken gesehen.
Wie meinen Sie das?
Neben der Flüchtlingskrise sollten
uns besonders der Klimawandel
und die Gefahr der extremen Klimaereignissen beschäftigen. Der
Klimawandel hat das Potenzial,
enorme Schäden anzurichten. Die
Politik und auch die Gesellschaft
als Ganzes müssen sich bewusst
sein, was auf uns zukommen könnte
– und entsprechend handeln.
Was macht den Klimawandel so
gefährlich?
Der Klimawandel vergrössert vorhandene
Risiken. Er bedroht Zugang
zu Wasser, Wirtschaftswachstum,
Zusammenhalt der Gesellschaft,
Frieden und Sicherheit. Besonders
gefährlich wird es, wenn
mehrere Ereignisse zusammentreffen.
Das sehen wir schon jetzt. Die
Flüchtlingskrise, besonders in Afrika,
hängt auch mit dem Wassermangel
zusammen. Oder schauen
Sie sich Europa an: Dort hat die
Flüchtlingskrise Auswirkungen auf
die politische Stabilität. Käme jetzt
noch ein drittes Problem hinzu, etwa
eine globale Rezession, wären
die Auswirkungen noch viel grösser.
Die sozialen Spannungen, die
man ansatzweise schon in
Deutschland sieht, könnten zunehmen.
Genau.
Tut die Politik Ihrer Meinung
nach zu wenig, um die Gefahr
zu bannen und die Risiken zu
minimieren?
Schaut man die jüngsten Beschlüsse
in Paris an, sieht es im Kampf gegen
den Klimawandel ganz gut aus — es
gibt noch einiges zu tun, aber die
Richtung stimmt. Anders bei der
unfreiwilligen Migration. Derzeit
sind rund 60 Millionen Menschen
auf der Flucht. Hier müssen wir
dringend handeln und das Problem
an der Wurzel packen.
Behindern die geopolitischen
Konflikte den Kampf gegen den
Klimawandel?
Ja. Wir sollten gleichwohl nicht
schwarz sehen. Im Bereich der
Ökologie haben wir gesehen, dass
jedes Risiko neue Chancen entstehen
lässt – und neue Geschäftsmodelle.
Nicht zuletzt sehe ich enormes
Potenzial für Versicherungslösungen.
Vergleicht man den aktuellen
Report mit früheren, ist auffällig,
dass die finanziellen Risiken
abnehmen.
Das liegt daran, dass neue Regulierungen
geschaffen wurden, die das
Finanzsystem stabiler machen. Die
Risiken sind nach wie vor vorhanden.
Sie werden aber überlagert
von grösseren und potenziell gefährlicheren
Risiken. Zudem hängt
es davon ab, welche Länder und
Regionen Sie betrachten. In Europa
wird das Risiko einer Finanzkrise
als hoch eingeschätzt. Dicht hinter
dem Risiko, das aus der Flüchtlingskrise
droht und der zunehmenden
Arbeitslosigkeit. In den
USA halten die Menschen hingegen
einen Cyber-Angriff für das grösste
Risiko.