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ATACMS-Raketen in der Ukraine: Putin hat ein Riesenproblem

Putin hat ein Riesenproblem

Überraschend hat die Ukraine zum ersten Mal russische Ziele mit ATACMS-Raketen aus den USA beschossen. Putins Truppen müssen sich jetzt neu organisieren.
19.10.2023, 00:39
Martin Küper / t-online
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t-online

Für die Logistiker der russischen Armee ist in der Nacht zu Dienstag ein Albtraum wahr geworden. Überraschend hat die Ukraine zum ersten Mal mit Raketen vom Typ ATACMS angegriffen. Die US-Regierung hatte bis zuletzt offengelassen, ob sie Kiew die Geschosse mit hoher Reichweite und grosser Zerstörungskraft tatsächlich liefern will. Jetzt hat die Waffe im Osten des Landes ihren Einstand gegeben – und das mit einem Paukenschlag.

Laut Kiew hat die ukrainische Armee fünf ATACMS auf zwei Luftwaffenstützpunkte der Russen bei Luhansk und bei Berdjansk im besetzten Teil der Ukraine abgefeuert. Nach unbestätigten Berichten wurden dabei mindestens neun russische Kampfhubschrauber zerstört und Dutzende Soldaten getötet oder verwundet. Auch russische Blogger berichteten von dem Angriff. Dieses von russischen Quellen veröffentlichte Video soll das Flugfeld bei Berdjansk nach dem Angriff zeigen. Auf den Bildern sind auch brennende Hubschrauber zu erkennen.

Diese ATACMS hat die Ukraine

Die US-Regierung hat nach dem Angriff bestätigt, dass sie der Ukraine ATACMS mit einer Reichweite von 165 Kilometern geliefert hat. Das deutet darauf hin, dass Kiew die älteste Version der Waffe aus den 90er-Jahren erhalten hat. Das scheinen auch Bilder von Überresten der Raketen zu bestätigen, die in russischen Telegram-Kanälen verbreitet wurden. Demnach handelt es sich um ATACMS der Version M39.

Diese sind mit einem Gefechtskopf versehen, der bei der Detonation über dem Ziel 950 kleinere Sprengsätze freisetzt. Diese Version der Rakete eignet sich besonders gegen nur leicht gepanzerte Ziele, Truppenansammlungen oder eben Luftwaffenstützpunkte. Im Englischen lässt sich die sperrige Abkürzung übrigens aussprechen wie «Attack 'ems», zu deutsche etwa: «Gib's ihnen» – ein passender Name also für das Geschoss.

Erhält Kiew noch modernere ATACMS?

Die Entscheidung für die Lieferung der ATACMS an die Ukraine sei schon im August gefallen, hiess es von der US-Regierung. Unklar ist, wie viele ATACMS die Ukraine erhalten hat und ob die USA auch modernere Versionen der Rakete liefern werden. Diese haben eine Reichweite von bis zu 300 Kilometern und können auch Hochexplosiv-Sprengköpfe tragen.

«Von den jetzt eingesetzten M39 hat die USA noch 98 Stück auf Lager», schreibt der kanadische Waffenexperte Colby Badhwar auf Twitter. «Weitere 532 Stück der Version M39A1 sowie 517 Stück der Versionen M48 und M57 gelten bei der US-Armee als abgelaufen und könnten der Ukraine geliefert werden», so Badhwar. Vor der Lieferung musste die US-Armee prüfen, ob die als abgelaufen eingestuften Raketen noch immer einsatzfähig sind. Das hat sich inzwischen offenbar bestätigt.

Eine «Wunderwaffe» sind die ATACMS nicht, doch sie geben der Ukraine einen weiteren Vorteil im Kampf gegen Putins Invasionstruppen. Die mussten ihre Kriegslogistik im besetzten Teil der Ukraine schon vorigen Sommer neu organisieren, nachdem die Ukraine Mehrfachraketenwerfer der Typen Himars und M270 erhalten hatte.

ATACMS und die russische Logistik

Bislang hatte die Ukraine für dieses System Raketen mit einer Reichweite von maximal etwa 90 Kilometern zur Verfügung. Damit hat sie gezielt Waffen- und Munitionsdepots, Logistikzentren und Kommandoposten der Russen hinter der Frontlinie zerstört. Die russischen Logistiker haben sich seitdem aber auf die Fernangriffe eingestellt und wichtige Einrichtungen ausserhalb dieser Reichweite aufgebaut, auch wenn die weiteren Strecken zur Front die Versorgung der Besatzer mit Waffen, Treibstoff und Nahrung erschweren. Jetzt kann die ukrainische Armee die russische Versorgung also noch effizienter unterbinden.

Karte Ukraine
Bild: T-Online/Google Maps, Erstellt mit Datawrapper

Probleme dürfte die russische Armee jetzt aber nicht nur mit der Logistik bekommen. «Die ATACMS-Angriffe auf zwei wichtige Luftwaffenstützpunkte wird die Russen zwingen, Flugzeuge und Hubschrauber weiter hinter der Front zu stationieren», analysiert der US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW). «Das wird die Möglichkeiten der russischen Armee stark einschränken, ihre Bodentruppen aus der Luft zu unterstützen.»

Vor allem der Einsatz von Kampfhubschraubern werde schwieriger, wenn diese einen längeren Weg zur Front zurücklegen müssen, so das ISW. «Das ist besonders bedeutsam, weil die russischen Hubschrauber die seit Juni laufende ukrainische Gegenoffensive stark verlangsamt haben.»

Taurus-Debatte flammt wieder auf

Auch der Kreml hat inzwischen auf den ersten ukrainischen ATACMS-Angriff reagiert: «Die Entscheidung des Weissen Hauses, den Ukrainern Raketen mit grosser Reichweite zu liefern, ist ein grober Fehler», schrieb Russlands Botschafter in Washington, Anatoli Antonow, auf Telegram. Einen Einfluss auf das Kriegsgeschehen hätten die «amerikanischen Geschenke» aber nicht, so Antonow weiter. Russland werde seine Ziele der «militärischen Spezialoperation» erreichen, wie Moskau den Krieg offiziell nennt.

Kritiker hatten die Befürchtung geäussert, die Lieferung von ATACMS könnte Russland provozieren und zu einer Eskalation des Krieges führen.

Diese Sorge treibt mutmasslich auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) um. Dieser hatte die Lieferung deutscher Marschflugkörper vom Typ Taurus zunächst davon abhängig gemacht, ob die USA der Ukraine ATACMS liefern. Taurus hat eine Reichweite von 500 Kilometern und könnte die illegal errichtete Kertsch-Brücke zwischen der besetzten Halbinsel Krim und dem russischen Festland zerstören.

Zuletzt hat Scholz die Lieferung des Taurus dann abgelehnt. Jetzt könnte die Debatte wieder Fahrt aufnehmen: «Scholz hat immer betont, dass deutsche Waffenlieferungen nur abgestimmt mit den USA erfolgen», schrieb auf Twitter der CDU-Aussenpolitiker Norbert Röttgen. «Nun hat Biden ATACMS geliefert und die Eskalation ist wieder ausgeblieben. Es gibt keinen Grund, der Ukraine weiter Taurus zu verweigern, die das Land dringend braucht!»

Verwendete Quellen:

  • cnn.com: US has provided Ukraine long-range ATACMS missiles, sources say (englisch)
  • twitter.com: Tweet von @ColbyBadhwar vom 17. Oktober (englisch)
  • understandingwar.org: Russian Offensive Campain Assessment, 17 October (englisch)
  • twitter.com: Tweet von @n_roettgen vom 18. Oktober
  • Material der Nachrichtenagentur dpa
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105 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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St. Holmenolmendolmen
19.10.2023 07:16registriert Mai 2015
Die Härte ist ja dass Russland die absolute Frechheit besitzt, im UN Sicherheitsrat Israel aufzufordern auf Zivilisten Rücksicht zu nehmen, während die eigenen Truppen in der Ukraine Kriegsverbrechen begehen.
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Steibocktschingg
19.10.2023 07:14registriert Januar 2018
"Kritiker hatten die Befürchtung geäussert, die Lieferung von ATACMS könnte Russland provozieren und zu einer Eskalation des Krieges führen."

Was könnte da noch weiter eskalieren? Russland hat, abgesehen von seinen vermutlich mindestens teilweise veralteten und maroden Atombomben kaum mehr was anzubieten, es sei denn, sie haben irgendwo noch riesige, unberührte Lager und rufen die Generalmobilmachung aus. Also, was soll dieses lächerliche Argument?
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Yogi Bär
19.10.2023 07:11registriert August 2018
KREML Fantasten! Russland hat bis heute nichts erreicht und wird in Zukunft nichts erreichen, ausser fast 300'000 Tode und Verletzte russische Soldaten sowie unschuldige ukrainische Opfer!
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In Bayern getötete Ukrainer waren laut Kiew Armeeangehörige
Die beiden in Oberbayern mutmasslich von einem Russen getöteten Ukrainer sind nach Angaben aus Kiew Angehörige der Streitkräfte des Landes gewesen.

Die beiden Männer seien nach Kriegsverletzungen zur medizinischen Rehabilitation in Deutschland gewesen, berichteten ukrainische Medien. Aussenminister Dmytro Kuleba habe seine Diplomaten angewiesen, den Fall besonders im Blick und den ständigen Kontakt zu den Sicherheitsorganen Deutschlands zu halten, damit der Verdächtige nach der ganzen Härte des Gesetzes bestraft werde, hiess es in den Berichten vom Sonntagabend.

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