Russlands Überfall auf die Ukraine läuft nicht wie geplant. Aus dem erhofften dreitägigen Handstreich wird nächste Woche ein einjähriges Desaster mit hunderttausenden Toten.
Überraschend wenige Opfer gab es indes im Kreml. Die wichtigsten Akteure sitzen weiterhin im Sattel, doch der Stellungskrieg hat auch sie erreicht. Aktuell sieht es danach aus, als würden sich zwei Gruppen bekriegen.
Viel Informationen über interne Streitereien dringen nicht in den Westen. Bekannt aber ist die Verachtung von Wagner-Chef Prigoschin («Putins Koch») für Verteidigungsminister Schoigu und Oberbefehlshaber Gerassimow. Zusammen mit dem Oberhaupt der Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow («Putins Bluthund»), und dem entmachteten General Surowikin («General Armageddon») habe Prigoschin die Absetzung von Schoigu und die Übernahme des Verteidigungsministeriums geplant. Das berichtet Wladimir Oschekin, der Gründer der russischen Antikorruptions- und Menschenrechtsseite Gulagu.net. Oschekin bezieht sich dabei auf eine anonyme Quelle.
Der Plan der drei Verschwörer sei gewesen, mit den rekrutierten Sträflingen schnell Erfolge auf dem Schlachtfeld zu erzielen. Die Eroberung von Bachmut dürfte dabei das oberste Ziel gewesen sein. Seit Monaten beissen sich dort die Invasoren an der ukrainischen Verteidigung die Zähne aus. Bis zu 40’000 Wagner-Söldner sollen dabei bereits ausgeschaltet worden sein.
Mit diesen (theoretischen) Erfolgen als Referenz wollten Prigoschin, Kadyrow und Surowikin bei Wladimir Putin vorstellig werden, um Änderungen einzufordern: Surowikin wollte Verteidigungsminister werden, Kadyrow hätte die Nationalgarde übernehmen wollen und Prigoschin sah sich als Chef des Geheimdienstes FSB. Die Theorie wird gestützt durch Aussagen des tschetschenischen Duma-Abgeordneten Adam Delimchanow. Kadyrows Sprachrohr im Kreml stellte kürzlich die Kompetenz des FSB infrage. Gleichzeitig forderte er für sich und Kadyrow den Vorsitz einer Staatsbehörde, damit sie effektiv gegen Oppositionelle im Land vorgehen können.
Prigoschin andererseits wisse, dass er keine politische Zukunft habe, solange der FSB kompromittierendes Material über ihn besitze. «Putins Koch» sass bereits mit 18 Jahren zum ersten Mal im Gefängnis und verbüsste später unter anderem eine 12-jährige Haftstrafe, die er allerdings wegen guter Führung vorzeitig beenden konnte. Aus dieser Zeit soll das Kompromat stammen. Menschenrechtsaktivist Oschekin glaubt, Prigoschin werde dieses Jahr nicht überleben: «Wie man Putins Vorgehen kennt, wird er entsorgt».
Verteidigungsminister Schoigu ist ein alter Putin-Vertrauter. Er gehört zur Gruppe der Siloviki, dem engsten Vertrauenskreis des Präsidenten. Er verbrachte schon die Sommerferien mit ihm, ausserdem residieren beide in der Rubljowka, der Luxus- und Villengegend westlich von Moskau.
Schoigus Auftritt ist weit unauffälliger als derjenige von Jewgeni Prigoschin. Social-Media-Posts mit ehemaligen Sträflingen gibt es nicht. Dafür zieht er die Strippen im Hintergrund. So wies der Kreml alle Propagandamedien an, Prigoschin in Zukunft nicht mehr «exzessiv zu promoten». Konkret bedeutet das: Prigoschin soll in Zukunft totgeschwiegen werden. Dies bestätigte der politische Analyst Sergei Markow in der «New York Times». Wer die Weisung tatsächlich ausgesprochen hat, ist nicht bekannt.
Auch hinter dem Rekrutierungsstopp von Sträflingen soll Sergei Schoigu stecken. Damit schlägt er mehrere Fliegen mit einer Klappe. Er schwächt Prigoschins Wagner – und stärkt seine eigenen Söldner. Die «Patriot» genannte private Militäreinheit (PMC) soll nach ukrainischen Angaben bereits im Donbass gesichtet worden sein. Sie steht dem Verteidigungsminister nahe und soll ebenfalls mit rekrutierten Sträflingen arbeiten. Während Wagner-Einheiten ca. 3000 Dollar pro Monat verdienen, erhalten Patriot-Kämpfer zwischen 6000 und 15'000 Dollar. Preiskampf im russischen Söldnerwesen.
Ob sich zwei Privateinheiten, die sich um Personal, Munition, Gelder und andere Ressourcen konkurrenzieren, positiv auf den Kriegsverlauf auswirken, wird von Beobachtern stark bezweifelt.