Herr Annen, nach dem Rückzug der russischen Truppen in den Vororten von Kiew gingen die Bilder etlicher Leichen auf den Strassen von Butscha um die Welt. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Toten Zivilisten sahen?
Hubert Annen: Aus kriegspsychologischer Sicht sind diese Bilder nicht überraschend. Menschen sind zu solchen Taten fähig. Das zeigen alle bewaffneten Konflikte, die wir bisher erleben mussten. Dennoch will und kann ich mich nicht an solche Bilder gewöhnen.
Das heisst, Sie halten sie für glaubwürdig?
Das müssen andere Leute abschliessend beurteilen. Im Krieg ist immer sehr viel auch Propaganda, dem muss man sicherlich Rechnung tragen. Die Bilder haben für mich aber in dem Sinne eine Glaubwürdigkeit, als dass sie sich in den Kriegsverlauf einordnen lassen.
Das heisst, es war eine Frage der Zeit bis solche Gräueltaten passieren?
Ein Krieg übersteigt alles, was wir kennen und uns in unserem Alltag gewohnt sind. Die russischen Soldaten sind weit weg von zu Hause, sie erleben Gewalt und sind womöglich auch selbst an Leib und Leben gefährdet. Ihre Individualität ist nicht gefragt, sie sind abhängig von ihrer Gruppe. Aus der Kriegspsychologie weiss man, dass diese Faktoren dazu führen, dass man beginnt, Grenzen zu überschreiten. Man ist plötzlich zu Dingen fähig, die vorher undenkbar waren. Das entschuldigt natürlich niemals, dass man Zivilpersonen tötet. Aber es ist eine mögliche Erklärung.
Was denken Sie, ist in der 27'000-Einwohner-Stadt Butscha passiert?
Es ist schwierig, das abschliessend zu beurteilen. Die russischen Truppen sahen sich zu einem Rückzug aus den Vororten von Kiew gezwungen. Auf militärischer Ebene ist es nicht gelungen, die Gebiete besetzt zu halten. Es ist möglich, dass diese Gräueltaten eine Art Kompensation für den wahrgenommenen Misserfolg sind.
Ist das nicht hochgradig irrational? Welchen Sinn macht es, Zivilpersonen zu erschiessen, wenn man sich sowieso zurückziehen muss?
Das ist es. Aber Krieg ist immer irrational. Da geht es nur darum, wer überlebt – ich oder der andere. Zudem wissen wir über die Kultur der russischen Armee, dass viele Soldaten Angst vor Sanktionen aus den eigenen Reihen haben. Es kann auch sein, dass die Vorgesetzten Angriffe auf Zivilisten anordnet und man mitmacht, weil man sich vor den Konsequenzen fürchtet, wenn man nicht mitzieht.
Könnte es auch sein, dass die russischen Truppen von Rachegelüsten geleitet wurden?
Racheakte sind möglich. Vielleicht ist ein Kamerade im Kampf ums Leben gekommen, den man rächen will. Auch dass man sich in einer Truppe gegenseitig zu Racheakten anstachelt, ist vorstellbar. Das sind alles Abläufe und Handlungen, die man aus ähnlichen Kriegssituationen kennt.
Zum Beispiel?
Beim Massaker von Srebrenica kamen mehr als 8000 Zivilpersonen ums Leben. Die serbische Armee, die Polizei und das serbische Paramilitär töteten vor allem junge Männer im wehrfähigem Alter. Es war eine Art Zeichen an den Gegner, «potenzielle» Soldaten auszuschalten und damit Macht zu demonstrieren.
Fassen wir zusammen: Prägende Kriegserlebnisse, der Misserfolg in der militärischen Operation, Machtdemonstration, Rache oder Befehle von oben könnten Erklärungsgründe für die Gräueltaten in Butscha gewesen sein.
Das ist aus psychologischer Sicht ein explosives Gemisch, das zu Kriegsverbrechen führen kann. Denn mit dem Ausbruch eines Krieges gelten plötzlich andere Regeln und Grenzen werden überschritten.
Kann es denn jemals einen «fairen» Krieg geben?
Ich denke nicht. Krieg ist immer schmutzig. Nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine wurden direkt Angriffe auf überbautes Gebiet gemeldet. Wie will man da überhaupt sauber Soldat gegen Soldat kämpfen? Sobald man irgendwo Bomben abwirft, nimmt man in Kauf, dass auch die Zivilbevölkerung Schaden nimmt. Zu beachten ist auch, dass es ein Zeichen von Schwäche ist, wenn man es nötig hat, sich derart an Zivilisten und Zivilistinnen zu vergehen.
Welchen Einfluss haben die Bilder der Leichen aus Butscha auf die Moral der ukrainischen Streitkräfte?
Auch das ist schwierig zu prognostizieren. Logischerweise ist es auch die Absicht, mit solchen Taten die Moral der ukrainischen Bevölkerung und Truppen zu zerstören. Es kann aber auch genau das Gegenteil auslösen. Nämlich, dass man nun erst recht weiterkämpfen will.
Das würde aber auch bedeuten, dass uns in den nächsten Tagen und Wochen weitere grausame Bilder erreichen werden?
Es ist nicht auszuschliessen, dass auf beiden Seiten unmenschliche Taten folgen könnten. Besonders bei der ukrainischen Armee braucht es nun eine starke und gute Führung der eigenen Truppen, dass diese sich möglichst an die Regeln halten. Das ist keine einfache Aufgabe.
Das Beste ist, wenn die ukrainische Armeeführung den steigenden Hass innerhalb der eigenen Truppe kanalisiert und für mutige Gegenangriffe einsetzt. Das ist vom bequemen Schweizer Sofa aus leicht gesagt, aber wie im Artikel erwähnt, ist es eine große Führungsaufgabe, die eigenen Truppen im Griff (des Rechts) zu halten. Die russische Armeeführung hat bei dieser Aufgabe versagt. Hoffen wir, dass dies den Ukrainern (einigermaßen) gelingt.
- Gandhi
Hier geht es nicht um Psychologie, sondern um Kriegstaktik. Die Russen schlachten ein Land ab - gewollt. Es geht nicht um unvermeidliches Grauen des Krieges. Es geht um bewusste und selbstbestimmte Entscheidungen, wie dieser Krieg geführt wird. Die Russen wollen Unterwerfung durch rohe und willkürliche Gewalt erreichen.
Keine Psychologie. Kriegstaktik. Gehen Sie zurück an den Küchentisch.