Über die neue ukrainische Offensive in der russischen Region Kursk dringen kaum Nachrichten nach aussen. Russische Kanäle suggerieren, dass die Aktion im Desaster geendet habe. Die Ukrainer behaupten ihrerseits, einen russischen Gegenangriff zurückgeschlagen zu haben. Wer sich einen unabhängigen Augenschein verschaffen möchte, kann das nur, indem er selbst nach Kursk reist.
Es ist noch dunkel, als wir uns mit einem Armeefahrzeug auf den Weg machen. Das Thermometer zeigt minus acht Grad. Der Fahrer ist ein schweigsamer Soldat, der pünktlich am vereinbarten Treffpunkt auftaucht. Das Auto, ein japanischer Pick-up, befindet sich in bemitleidenswertem Zustand. Immerhin ist aber auf dem Dach unsere Lebensversicherung montiert: fünf Störsender, die uns russische Kampfdrohnen vom Leib halten sollen.
Bei der Fahrt über verschneite und vereiste Pisten wird eines schnell klar: Die Gegend dies- und jenseits der russischen Grenze wirkt wie ein riesiges Heerlager. Wo auch immer es etwas Deckung gibt, sind ukrainische Militärfahrzeuge und Panzer geparkt, manchmal versteckt unter riesigen Tarnnetzen. Und was noch auffällt: Viele Armeefahrzeuge sind mit Störsendern ausgerüstet.
Die starken elektronischen Abwehrmassnahmen haben den Russen in Kursk einiges Kopfzerbrechen bereitet, als die Ukrainer am 5. Januar eine überraschende Offensive starteten. Allerdings setzen Moskaus Streitkräfte sowohl in Kursk als auch in den ukrainischen Kampfzonen inzwischen auch Drohnen ein, die nicht mehr über Funksignale gesteuert werden. An diesen eher langsamen und wenig wendigen Fluggeräten ist ein Behälter befestigt, der ein dünnes Glasfaserkabel abrollt. Damit werden die Video- und Steuersignale zwischen Pilot und Drohne übermittelt. Störsender sind gegen solche Glasfaserdrohnen wirkungslos.
Am Grenzposten winken uns uniformierte Ukrainer durch. Ein mächtiger amerikanischer Abrams-Kampfpanzer rattert vorbei. Sein Turm ist mit Zusatzpanzerung und Gitterkäfigen verstärkt, um bei Drohnentreffern eine bessere Überlebenschance zu haben. Später kommt uns ein alter ukrainischer Kampfpanzer entgegen. Er schiebt zwei massive Rollen vor sich her. Es ist ein Minenräumer, der bei Angriffen als vorderstes Fahrzeug eingesetzt wird, um eine Gasse durch russische Minenfelder zu schlagen.
Kurz nach der Grenze kommen wir zu einem Verkehrskreisel mit einem grossen orthodoxen Kreuz. Darauf steht auf Russisch: «Herr, rette und erhalte Russland.» Am Kreuz haben die Ukrainer ihre Fahne befestigt und daneben einen geschmückten Weihnachtsbaum aufgestellt. In der Ukraine dauert die Weihnachts- und Neujahrszeit von Dezember bis Mitte Januar.
Die Distrikthauptstadt Sudscha ist die einzige grössere Ortschaft, die von den Ukrainern im August erobert und seither gehalten wurde. Im Süden der Stadt sind die Russen inzwischen aber bis auf wenige Kilometer herangerückt. Das gesamte russische Territorium, das von den Ukrainern kontrolliert wird, hat sich in den letzten Monaten mehr als halbiert.
Dennoch gibt es einen augenfälligen Unterschied zwischen Sudscha und den umliegenden Ortschaften einerseits und den von Russland angegriffenen Dörfern und Städten in der Ukraine: Auch wenn hier viele zerschossene Gebäude zu sehen sind, hält sich das Ausmass der Zerstörung immer noch in Grenzen. So sind in den Aussenbezirken von Sudscha die meisten Häuser intakt geblieben, inklusive Fensterscheiben. Das ist in den von Russen bombardierten Ortschaften in der Ukraine ganz anders. Es sieht so aus, als ob die Moskauer Militärführung Hemmungen hätte, die Städte auf ihrem eigenen Staatsgebiet so gnadenlos zu zerstören, wie sie das in der Ukraine macht.
Tatsächlich leben noch immer einige Russen hier. Auf ihre Häuser haben sie das russische Wort für «Leute» gepinselt, um zu signalisieren, dass es sich bei ihnen um Zivilisten handelt. Andere Gebäude sind mit dem Wort «besetzt» und einem weissen Dreieck versehen, dem Erkennungszeichen des ukrainischen Invasionskorps. Dort haben sich Soldaten in verlassenen Wohnungen eingenistet.
Auf dem Sowjetplatz im Stadtzentrum waren wir schon im August, auf einer von ukrainischen Soldaten geleiteten und kontrollierten Journalistenreise. Der Platz mit der von den Ukrainern herunter gerissenen Lenin-Statue ist nun schneebedeckt und menschenleer. In der Luft ertönt das metallische Surren einer kleinen Quadcopter-Drohne; es bleibt unklar, ob es eine russische oder eine ukrainische ist. Wir warten im Innern eines Hauses, bis sich das Geräusch entfernt.
Neben dem Sockel der Lenin-Statue befindet sich eine Bühne, an deren Dach die Ukrainer eine lebensgrosse Puppe aufgehängt haben. Sie trägt eine russische Uniform und eine Putin-Maske. Auf den Sockel der Tribüne haben die Ukrainer in grossen englischen Lettern geschrieben: «Grösse gebührt jenen, die Kriege gewinnen, nicht denen, die sie einfrieren. Wachen Sie auf, Mister Trump.»
Am Rand des Sowjetplatzes befindet sich ein Geschäft für Haushaltsgeräte. Im Sommer war es noch gut bestückt mit Kühlschränken, Waschmaschinen und Kochherden. Das meiste ist inzwischen verschwunden. Auch in Privathäusern gibt es Hinweise auf Plünderungen. Vor einer aufgebrochenen Garage liegt noch ein rostiges Brecheisen, im Innern ist alles durchwühlt. Die Frage, wer dafür verantwortlich ist, lässt sich so schnell nicht beantworten.
Mitte November hatte der russische Verkehrsminister und ehemalige Gouverneur des Oblast Kursk, Roman Starowoit, allerdings bekannt gegeben, dass es auch Plünderungen durch russische Soldaten und Zivilisten gegeben habe. In den Fällen, die wir in Sudscha sehen, können es keine russischen Soldaten gewesen sein, denn diese sind im August geflüchtet und bisher nicht zurückgekommen. Es bleiben also nur noch die Optionen, dass es entweder Ukrainer oder aber russische Zivilisten waren. Als wir eine weitere aufgebrochene Garage inspizieren, hören wir heftige Artillerieduelle und Gefechtslärm, nur wenig südlich von Sudscha.
Wir fahren dem Gefechtslärm entgegen, bis zur Ortschaft Samoste. Doch dort wird es uns zu unheimlich, und wir kehren um. Anschliessend geht es wieder nach Norden. Wir begegnen ukrainischen Panzern, die meisten davon relativ moderne westliche Modelle. Kiew setzt in Kursk seine erfahrensten und am besten ausgerüsteten Einheiten ein. Es geht auch darum, das kleine Gebiet auf russischem Territorium als Faustpfand in künftige Verhandlungen mit Trump und Putin einzubringen. Umgekehrt tun die Russen alles, um die Ukrainer von ihrem Staatsgebiet zu vertreiben. Bisher ist ihnen das aber trotz nordkoreanischer Schützenhilfe nicht gelungen.
Am Strassenrand sehen wir insgesamt etwa zwei Dutzend zerstörte gepanzerte Fahrzeuge und Autos, viele davon von Drohnen getroffen. Die russische Propaganda behauptet, dass die Ukrainer in Kursk inzwischen fast 4000 gepanzerte Fahrzeuge, Lastwagen und Artilleriesysteme verloren hätten. Während unserer kurzen Reise decken wir ein grösseres Gebiet ab und kommen beim Zählen der zerstörten Fahrzeuge aber niemals auf die von Moskau implizierte Dichte pro Quadratkilometer. Unbestreitbar ist aber, dass die Ukraine in Kursk erhebliche Verluste erlitten hat.
Im Dorf Kasatschia Loknia treffen wir gleich neben der Kirche auf einen älteren Mann, der gerade im Begriff ist, Kanister an einem Ziehbrunnen mit Wasser zu füllen. Die vollen Gefässe stellt er auf eine Schubkarre. Viktor hat zwei Goldzähne und wirkt recht unerschrocken angesichts der Tatsache, dass ein ukrainisches Geschütz in der Nähe ständig auf die Russen im Osten schiesst. Diese wiederum revanchieren sich mit Granaten, die in der Nähe der Kirche einschlagen. «Heute ist das Artilleriefeuer ziemlich intensiv», sagt Viktor lachend. Die Russen versuchen, die Stellung des ukrainischen Geschützes zu finden und zu treffen.
Sie bekämen täglich Brot von den Ukrainern, es gebe humanitäre Hilfe, sagt der ehemaliger Traktorfahrer weiter. Und mit den ukrainischen Soldaten komme man ganz gut aus, sie seien anständig. Allerdings sind Aussagen von Zivilisten in besetzten Gebieten immer mit Vorsicht zu geniessen. Unser Gespräch wird prompt beendet, als eine russische Granate heran faucht und unweit des Ziehbrunnens explodiert. Viktor packt seine Schubkarre und bedankt sich für die Salami, die wir ihm geschenkt haben.
Auf der Rückfahrt passieren wir ein lichterloh brennendes Militärfahrzeug der Ukrainer. Es wurde offenbar erst vor kurzem von einer Drohne getroffen. Die Spuren der Explosion sind noch gut zu erkennen. Es sieht so aus, als ob das Auto ohne Störsender unterwegs gewesen sei. Der ukrainische Sicherheitsdienst hat uns verboten, Bilder von Militärfahrzeugen oder Soldaten zu veröffentlichen.
Je mehr wir sehen, desto klarer wird: Die ukrainische Offensive war kein Erfolg. Kiews Panzer stiessen zwar ein bisschen nach Nordosten vor, doch fast gleichzeitig griffen die Russen im Westen an. Trotz der anfänglichen ukrainischen Geländegewinne schrumpfte das besetzte Gebiet unter dem Strich um rund 12 Prozent auf eine Fläche von noch etwas mehr als 400 Quadratkilometern. (aargauerzeitung.ch)
Ein Krieg, der schon am Anfang verloren schien, der bereits 3 Jahre dauert. Ich hätte nie gedacht, dass dieses Land so lange durchhalten kann. Unvorstellbar.
Slava Ukraini.