Die russische Armee steht unter grossem Druck. Die Ukraine hat am Montag den Start ihrer Gegenoffensive im Süden des Landes verkündet und feuert seither in hoher Kadenz Raketen auf russische Stellungen. Eine Rückeroberung der besetzten Stadt Cherson und der Gebiete westlich des Flusses Dneprs scheint aktuell realistisch.
Weiter südlich auf der Krim hat sich die Lage für Russland ebenfalls zugespitzt. Die Ukrainer zerstörten im August eine wichtige Luftwaffenbasis, attackierten Munitionslager und Kommandoposten. Die besetzte Halbinsel ist für die Russen kein sicherer Ort mehr.
Nicht viel besser sieht es für die Russen im Osten der Ukraine aus. Seit Wochen versuchen sie, die Städte Bachmut, Slowjansk und Kramatorsk einzunehmen. Doch sie kommen kaum vom Fleck.
Da stellt sich die Frage: Kann Moskau seine Anstrengungen nochmals intensivieren und sich aus der brenzligen Lage befreien?
Russland ist flächenmässig das grösste Land der Welt und es hat über drei Mal mehr Einwohner als die Ukraine. Doch wie gross sind die Reserven noch?
Dass die russische Armee zusätzliches Personal braucht, hat auch Putin eingesehen. Vergangene Woche erhöhte er per Dekret die Zahl seiner Soldaten. Bis zum 1. Januar sollen die Truppen um 137'000 Personen auf 1,15 Millionen Mann aufgestockt werden.
Rollen da also bald Zehntausende frische Soldaten auf die Ukraine zu? «Nein», meint Mikhail Polianskii vom Leibnitzt-Institut für Friedens- und Konfliktforschung. Polianskii ist selber Russe und ist vor drei Jahren der Arbeit wegen nach Deutschland gezogen. «Russland hat nicht die Kapazitäten, um grosse Massen an untrainierten Männern innert Kürze zu guten Soldaten auszubilden.»
Die russische Armee habe während des vergangenen halben Jahres viele professionelle Mitglieder verloren. Diese würden nun fehlen, um die neuen Soldaten fürs Schlachtfeld vorzubereiten, so Polianskii.
Zu Beginn der Invasion hatte Russland etwa 190'000 Mann im Feld. Doch 80'000 Soldaten dürften seither getötet oder verwundet worden sein, schätzt das Pentagon.
Jetzt versuche der Kreml diese hohen Verluste unter anderem mit neuen Wehrpflichtigen zu kompensieren, sagt Polianskii. Normalerweise würden im Herbst und im Frühling jeweils 130'000 junge Männer für einen einjährigen Dienst in die Armee eintreten. «Doch letzten Frühling waren es 50'000 weniger», so Polianskii. «Das ergibt auch absolut Sinn. Welcher junge Mann will denn in einen Krieg ziehen?»
Die Duma habe ein Gesetz erlassen, wonach Wehrpflichtige bereits nach vier Monaten Training in den Krieg geschickt werden können. «Dies, obschon Putin zu Beginn gesagt hat, dass Wehrpflichtige nicht kämpfen müssen.» Dies zeige, wie sehr die russische Armee mittlerweile von schlecht ausgebildeten Kämpfern abhängig sei, so Polianskii.
Diese seien aber nur bedingt hilfreich. «Sie können die Truppen vielleicht logistisch unterstützen oder dabei helfen, die Frontlinien zu verteidigen. Aber für Offensiv-Manöver braucht es gut ausgebildete Truppen.» Für Polianskii ist klar: «Die russische Armee hat einen enormen Personalmangel.»
Für den Kreml dürfte es schwierig werden, die Armee nur mit Wehrpflichtigen um die angekündigten 137'000 Personen aufzustocken. Zumal sich gut situierte Russen für rund 150'000 bis 200'000 Rubel (etwa 2500 bis 3200 Franken) aus dem Militärdienst freikaufen können, wie Polianksii erzählt. Der Forscher vermutet deshalb, dass die russische Regierung die Wehrpflichtzeit von ein auf eineinhalb Jahre erhöhen könnte, um die angestrebte Aufstockung an Soldaten zu erreichen. Denkbar sei auch die offizielle Einverleibung der Kämpfer aus den Gebieten Donezk und Luhansk in die russische Armee.
«Russland dürfte ernsthafte Schwierigkeiten haben, in so kurzer Zeit eine so grosse Zahl neuer Soldaten zu mobilisieren», schreibt auch das renommierte «Institute for the Study of War» (ISW). Schon vor dem Überfall habe die russische Armee nur 850'000 aktive Soldaten umfasst – also deutlich weniger als die Million, die auf dem Papier steht.
Seit Wochen hat Russland das Dritte Armeekorps aufgestellt, das in diesen Tagen die Truppen im Feld verstärken soll. Doch auch hier präsentiert sich dasselbe Problem: Die Rekruten des dritten Armeekorps seien unausgebildet, unfit und alt, schreibt das ISW.
Die Russen suchen momentan derart verzweifelt nach Personal, dass sie sogar in Gefängnissen nach potenziellen Rekruten Ausschau halten. Gemäss dem russischen Onlineportal Mediazona soll Jewgenij Prigoschin höchstpersönlich nach «Mördern und Räubern» gefahndet haben und ihnen viel Geld geboten haben, wenn sie sich für den Krieg in der russischen Armee melden. Prigoschin gilt als enger Vertrauter Putins und soll für die Aufstellung der Söldnertruppe Wagner verantwortlich sein, die ebenfalls in der Ukraine kämpft.
Eine Karte, die Putin bisher noch nicht gezogen hat, ist die Generalmobilmachung. Dann würden rund 900'000 Reservisten einberufen. Die Pflicht zum Reservedienst gilt für Männer bis zum Alter von 50 Jahren. Doch auch bei einer Generalmobilmachung müssten die neuen Kräfte noch einmal ausgerüstet und neu trainiert werden.
Auf die Schnelle wird Putin die Kampfkraft seiner Truppen also nicht wesentlich stärken können. Für weitere Gebietsgewinne fehle den Russen das Personal, sagt Polianskii. Aber die Verteidigung des bisher eroberten Territoriums sei eine andere Sache. «Für eine erfolgreiche Offensive braucht es etwa ein Kräfteverhältnis von 4:1», sagt der Forscher. Es sei zwar möglich, dass die Ukraine die Gebiete westlich des Dneprs zurückerobere. «Aber ein Spaziergang wird das nicht.»
Eigentlich gilt dieses Verhältnis, wenn die Armeen gleich stark und gleich motiviert sind .. Terrain macht auch viel aus, natürlich.
Es ist klar, das die Ukraine im Vorteil ist und man hat auch gesehen, das diese Leute alles riskieren, um von putin Russland weg zu kommen. Möge der Moment bald kommen, an dem russische Soldaten aufgeben.
ALLES Gute weiterhin!
Es wird auch nicht besser, wenn die „Fachkräfte“ noch nicht mal fertig ausgebildet ihre Stelle durch Tod oder Verwundung schon wieder aufgeben.