Er träumte seit je von Hollywood, und auch die Wahlberechtigten hofften auf ein politisches Happy End wie aus der Traumfabrik, als sie am 21. April 2019 Wolodimir Selenskyj mit 73 Prozent der Stimmen zum Präsidenten der Ukraine machten.
Er versprach, «euch niemals zu enttäuschen», aufzuräumen mit der Klüngel- und Vetternwirtschaft, der Korruption und Arroganz der Macht. Seine neugegründete Partei «Diener des Volkes» erhielt satte 254 von 450 Abgeordneten im Parlament. Man feierte ihn als neuen Macron.
Die Ukrainerinnen und Ukrainer wussten damals kaum, was Selenski an Ideen und Prinzipien vertrat, aber sie hatten doch genug von ihm gesehen, um ihm blind zu vertrauen. Denn er war längst ein nationaler TV-Star. In der Erfolgsserie, die sinnigerweise auch «Diener des Volkes» heisst, legt sich der Komiker Selenskyj in der Rolle des Wasil Holoborodko listig und spitzbübisch mit der beim Volk verhassten Regierung an und steigt zum Präsidenten auf. In gewisser Weise hatten die Leute diesen fiktiven, aber unglaublich populären Fernsehhelden gewählt, damit er alle ihre realen Probleme wegzaubert.
Sie sollten es bald bereuen. Schon nach einem Jahr sprachen nicht nur seine Gegner von einer «Schande», auch Militärangehörige und andere Gruppen riefen: «Selja - verschwinde!» Sein erster Biograf, Sergii Rudenko, dessen Buch in der Ukraine erstmals 2020 veröffentlicht wurde und in diesen Tagen in aktualisierter Form international lanciert wird, findet ein krasses Bild, um Selenskyjs Regierung zu beschreiben: Sie sei zur Titanic mutiert, deren Untergang nur durch den von Putin entfesselten Krieg verhindert worden sei.
Der Präsident ging gewiss beherzt ans Werk, verabschiedete innert kürzester Zeit mehrere Dutzend Gesetzesvorschläge. Die Regierung lobte sich selbst als «Turboregime». Schnell zeigte sich allerdings auch, dass Selenskyjund seine «Diener des Volkes», die aus Showsternchen, Hochzeitsfotografen, Arbeitslosen, Restaurantbesitzern bestanden, kaum über politische oder wirtschaftliche Erfahrung verfügten.
Einer der «Diener des Volkes» regelte im Sitzungssaal des Parlamentes telefonisch seine intimen Angelegenheiten mit einer Prostituierten. Ein zweiter bewirtete auch während der Ausgangssperre in der Coronazeit frischfröhlich Gäste in seinem Restaurant. Ein dritter setzte auf seiner Steuererklärung 17 Edelkarossen ab und begründete es damit, dass er «eben gern unterwegs sei». Ein vierter hatte in betrunkenem Zustand einen Unfall gebaut. Ein fünfter beleidigte eine Journalistin als «dummes Schaf». Eine Abgeordnete teilte die ukrainischen Kinder in «wertvolle» und «wertlose» ein. Insgesamt elf «Diener des Volkes» wurden beschuldigt, Bestechungsgelder angenommen zu haben.
Biograf Sergii Rudenko arbeitet als unabhängiger Journalist für den Informationssender espreso.tv, der 2014 aus der oppositionellen Maidan-Bewegung hervorgegangen ist. Er schreibt, vor dem russischen Überfall auf die Ukraine habe Selenskyj kaum mehr erreicht als seine Vorgänger. Der korrupte Clan des früheren Präsidenten Petro Poroschenko sei einfach durch den korrupten Clan von Selenskyjersetzt worden. Hier wie da Klüngel- und Vetternwirtschaft. In Selenskyjs Regierung sitzen alte Kumpel, Verwandte und Geschäftspartner.
Die wahren «Hausherren im Land» seien immer noch die Oligarchen, allen voran Ihor Kolomojski, Rinat Achmetow und Wiktor Pintschuk. Gewiss, Selenskyjstartete 2021 eine Anti-Oligarchen-Kampagne, legte sich besonders mit Achmetow an, dem er ohne konkrete Beweise vorwarf, gemeinsam mit Russland einen Staatsstreich zu planen. Der Ausbruch des Krieges drängte nun diesen Kampf gegen die Oligarchen in den Hintergrund, und Achmetow besserte sein Image auf, indem er die Kriegskasse der Ukraine mit einem Milliarden-Vorschuss füllte.
Sergii Rudenko nennt sein Buch eine «politische Biografie». Die Präzisierung ist wichtig, damit man von dem Werk nicht zu viel erwartet. Selenskyjs Werdegang und seine jüdische Herkunft interessierten Rudenko kaum. Wir erfahren immerhin, dass der 1978 geborene ukrainische Präsident seine Kindheit zum Teil in der Mongolei verbrachte, wo sein Vater Ingenieur gewesen war.
Ab der 2. Klasse wuchs er in der zentralukrainischen Metropole Kriwi Rih auf, die von den Russen auch bereits beschossen wurde. Früh reüssierte Wolodimir im «Club der Witzigen und Schlagfertigen» und arbeitete an seiner Karriere als Comedian. Mit 16 Jahren bekam er ein Stipendium, um in Israel zu studieren, aber sein Vater war dagegen.
Wer auf intensivere Gespräche des Biografen mit Selenskyj und seinem privaten Umfeld hofft, wird enttäuscht. Rudenkos Buch bleibt eine Episoden-Biografie, die pointierte Schlaglichter auf einzelne Ereignisse und politisch relevante Kumpane von Selenskyjwirft. Vieles wird angetippt, aber nicht eingehender ausgeführt.
Deshalb bleibt auch nach der Lektüre des Buches ein Rätsel, warum ein TV-Komiker ohne politische Erfahrungen und mit viel «Nebel im Kopf», was ökonomische Prozesse anbelangt, seit dem Kriegsausbruch plötzlich die richtigen Entscheidungen trifft und die richtigen Worte findet.
Noch 2016 riss Selenskyj an einem Comedy-Festival Witze unter der Gürtellinie, verglich die Ukraine mit einer deutschen Pornodarstellerin, die nie genug kriege und am liebsten von allen Seiten. Später rechtfertigte er seine geschmacklose Einlage noch, veredelte sie zu einer Fundamentalkritik an Krediten, die sein Land überall beantragte.
Seit er selbst an der Macht ist, trifft er den Ton besser. Und es fällt schwer zu glauben, da spreche ein Junkie. Der Vorwurf geistert seit je herum, aber niemand, so Rudenko, habe Selenskyj bis jetzt eine Drogenabhängigkeit nachweisen können.
Der Biograf ist spürbar begeistert über die Art, wie der ukrainische Präsident sein Land durch den Krieg führt, verschweigt aber nicht die groben Pannen und Peinlichkeiten, die sich Selenskyj zuvor geleistet hat. Dass er plötzlich so überzeugend regiert, liegt nicht zuletzt daran, dass Regierung und Opposition seit Putins Überfall an einem Strang ziehen. Damit wirkt sich Selenskyjs Schwäche, nämlich sein unnachsichtiger Umgang mit politischen Gegnern, weniger aus. Zuvor hat er im eigenen Regierungslager ausgesiebt, wer nicht ergeben seine Linie vertrat.
Der ehemalige Schauspieler ist in der Anfangszeit seiner Präsidentschaft oft auf Buddies und Blender hereingefallen. So zählten die Schefir-Brüder seit Selenskyjs Jugendzeit in Kriwi Rih zu seinen engsten Weggefährten. Sie unterstützten ihn erst als Komiker, dann als Staatsoberhaupt. Der jüngere Schefir wurde Erster Assistent des Präsidenten und überlebte einen Anschlag.
Sein älterer Bruder sagte noch am 30. Mai dieses Jahres: «So wie ich den Krieg sehe, wurde der vom Zaun gebrochen, um kräftig Kohle damit zu machen. Auf beiden Seiten. Alle haben daran verdient, wir sind halt dabei den Bach runtergegangen.» Er hält Putin für einen «klugen Mann», der zwar imperiale Ambitionen habe, aber man könne sich doch mit ihm einigen. Selenskyjs Team musste klarstellen, dass man diese Ansicht nicht teile. Biograf Sergii Rudenko erwähnt diese Episode, um die Mentalität und das Milieu auszuleuchten, in dem Selenskyj gross geworden ist.
Als er beschloss, die spassige Fernsehwelt der Serie «Diener des Volkes» Wirklichkeit werden zu lassen und als Präsident zu kandidieren, trat er an mit dem kecken Slogan «Ich scherze nicht». Inzwischen ist das kein Running Gag mehr. Seit Putin die Ukraine in eine Tragödie hineingezwungen hat und Wolodimir Selenskyj nicht mehr scherzen muss, nimmt ihn plötzlich alle Welt ernst. Selbst Putin muss ihn jetzt ernst nehmen. (aargauerzeitung.ch)
Nach dem Krieg muss aber ein anderer her, um den Aufbau und die Integration in den Westen zu managen. Da gibts viel zu tun mit den Oligarchen.