Manchmal heulen die Alarmsirenen auf, bevor die Raketen explodieren. Gelegentlich schlagen die schweren Geschosse aber mitten in der Nacht und ohne Vorwarnung ein. So ist es auch diesmal, kurz nach Mitternacht: Ein Feuerball erhellt kurz die Dunkelheit, und eine heftige Detonation erschüttert unsere Unterkunft. Kurz nach dem ohrenbetäubenden Knall prasseln Schrapnells und Gesteinsbrocken auf das Hausdach. Dabei ist das getroffene Gebäude, der Sitz einer zivilen Behörde, gut 300 Meter entfernt.
So geht das fast jede Nacht in Charkiw, der nach Kiew zweitgrössten Stadt der Ukraine. Anders als die meisten anderen Grossstädte liegt Charkiw in Frontnähe. Bis zur russischen Grenze sind es vom Stadtzentrum nur etwas mehr als 30 Kilometer. Um Charkiw zu treffen, müssen die Russen daher nicht kostspielige Marschflugkörper oder ballistische Raketen bemühen. Es reichen schon normale Artilleriegeschosse.
Nicht immer wird klar, was die russische Armee mit ihren Angriffen bezweckt. Einmal schlagen kurz nach vier Uhr am Morgen zwei Raketen auf dem Gelände einer Mittelschule am Stadtrand ein. Weil sich zu diesem Zeitpunkt niemand in dem Gebäude befand, gibt es für einmal keine Todesopfer oder Verwundeten. Aber war die Schule wirklich das Ziel oder wollten die Artilleristen in Wirklichkeit den 500 Meter entfernten Fernsehturm der Stadt treffen?
Als wir am Morgen für einen Augenschein hinfahren, klafft direkt hinter der Schule ein Krater von rund fünf Metern Durchmesser und zwei Metern 50 Tiefe. Die Nachbarn in den sowjetischen Plattenbauten nebenan hatten Glück, dass sich die Rakete ins weiche Erdreich bohrte und so wenig Schaden anrichtete. Etwas weiter weg schlug dagegen ein zweites Geschoss mitten im Hauptgebäude ein. Die Feuerwehr und Rettungskräfte durchsuchen nun die Überreste, und ein fahrbarer Kran zieht abgebrochene Betonträger aus den Trümmern.
Die Männer arbeiten routiniert und zeigen kaum eine Gefühlsregung. Ganz anders dagegen Nachbarn und Passanten auf der Strasse. Aus vielen Gesichtern lässt sich Schock, Abscheu oder stille Wut ablesen. Nur einer ist nicht empört: Ein Mann mit einem Velo, zwischen 30 und 40 Jahre alt, sieht sich die Schäden an und sagt uns kühl:
Dabei legt er den Zeigefinger an seinen Mund, packt sein Fahrrad und macht sich von dannen. In Charkiw, wo mehrheitlich Russisch gesprochen wird, solidarisiert sich eine Minderheit trotz der Angriffe mit Russland.
Über den Innenhof der Schule eilen freiwillige Helfer, um Bücher von der Bibliothek in ein sichereres Nebengebäude zu bringen. Ein Bulldozer schaufelt gleichzeitig Trümmer auf bereitstehende Kipplaster. Als zwei Bäume die Aufräumarbeiten stören, werden sie kurzerhand abgesägt. Einer davon erfasst beim Umkippen um ein Haar eine Frau, die einen Stapel Bücher über den Hof trägt. Im letzten Moment kann sie noch zur Seite springen, während der Baum mit einem peitschenden Geräusch auf den Asphalt fällt.
Eine Zeitlang haben die ukrainischen Streitkräfte die Russen von Charkiw weggedrängt, und der Artilleriebeschuss nahm in der Folge ab. Doch nun scheint sich das Kriegsglück gewendet zu haben, die Russen rücken wieder näher. Ausserhalb der Stadt bereitet sich eine Spezialeinheit der Polizei auf eine Evakuierung von Zivilisten vor. Die Polizisten sind in voller Kampfmontur: Helm, schusssichere Weste, Ersatzmagazine für die Sturmgewehre, umgeschnallte Erste-Hilfe-Tasche. Nur die dunklen Uniformen ohne Tarnfleck unterscheiden sie von Soldaten oder Milizionären.
Evakuiert wird mit Autobussen. Sie stehen in einer langen Reihe am Strassenrand bereit. Die Busfahrer kommen heraus und erhalten ebenfalls Schutzwesten ausgehändigt. Auch wir haben unsere Westen angezogen und die Helme griffbereit, doch dann kommt vom Geheimdienst im letzten Moment die Nachricht, dass man uns nicht dabei haben wolle. Begründung:
Offenbar traut man uns nicht, und wir müssen unverrichteter Dinge nach Charkiw zurückfahren. Der Beschuss hat einen grossen Teil der Stadtbevölkerung vertrieben, doch im Vergleich mit der Situation im März sind viele Einwohner wieder zurückgekehrt. Anders als in Kiew bleiben aber die meisten Geschäfte und Restaurants geschlossen. Grosse Teile der Innerstadt sind noch vollkommen intakt, Strassenbahnen und Busse fahren wieder. Aber wenn man in die Aussenviertel wie das schwer vom Krieg in Mitleidenschaft gezogene Quartier Saltivka fährt, ist die Zerstörung fast allgegenwärtig.
Bei einer Wohnsiedlung aus der Sowjetzeit haben Raketen nicht nur einzelne Häuser schwer beschädigt, sondern auch die unterirdischen Wasserleitungen. Hier wohnen praktisch nur noch alte Menschen, Rentner, die kaum von ihrer Pension leben können. Ein noch rüstiger Mann führt uns herum und bittet uns dann um Nahrungsmittel für seine Nachbarn.
In einem nahe gelegenen Supermarkt, dessen Angebot sich kaum von einem vergleichbaren Laden in der Schweiz unterscheidet, kaufen wir das Nötigste. Wir haben aber auch eine Wunschliste mit Medikamenten erhalten, und da wird es etwas schwieriger. Am Ende wird die kleine Hilfe, einschliesslich Medizin, aber an die Zurückgebliebenen verteilt. Eine Frau beginnt sofort gierig, sich das mitgebrachte Brot in den Mund zu schieben.
Seit Wochen haben die Bewohner der zusammengeschossenen Sowjetsiedlung kein fliessendes Wasser mehr. Doch nun ist auch hier Abhilfe absehbar. Arbeiter einer Baufirma verlegen die Wasserleitungen neu. Bleibt nur zu hoffen, dass der Krieg Saltivka nicht noch einmal verwüstet.
Auf dem Weg zurück in die Stadt kommen wir zu einer Nahrungsmittelverteilung der Regierung. Mehrere hundert Personen, vor allem ältere Ukrainer, warten auf einem Platz, bis sie in der Reihe sind. Der Leiter, ein junger Mann mit Leuchtweste, bittet uns, in unseren Veröffentlichungen keine Hinweise auf den genauen Ort der Aktion zu geben. Die Lokalität werde sonst bei der nächsten Verteilung von der russischen Artillerie beschossen.
Dessen ungeachtet, beschweren sich wartende Rentnerinnen und Rentner lautstark über die angebliche Untätigkeit der Regierung, sie mit dem Nötigsten zu versorgen. Dabei geht allerdings vergessen, dass sich neben den Behörden eine Vielzahl von privaten Organisationen und Kirchen darum kümmert, Notleidenden zu helfen. (aargauerzeitung.ch)