«Queer sein – das wird jetzt praktisch illegal», sagt Alexander Tschaplygin. «Das, was jetzt kommt, dient dem Ziel, LGBTQIA klarzumachen: Ihr seid nicht sicher.» Tschaplygin ist Physikstudent in Moskau und lebt offen schwul. Er ist wütend und enttäuscht über das, was die russische Duma kürzlich beschlossen hat.
Und er ist besorgt. Er, der eigentlich oft demonstriert, pro-LGBTQIA, aber auch gegen den russischen Krieg in der Ukraine, er sagt: Das, was jetzt kommt, ist «unvorhersehbar».
Es geht um ein neues Gesetz: Wer künftig in Russland Informationen über Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans, queere, inter- oder asexuelle Menschen verbreitet, etwa in sozialen Medien, soll bestraft werden.
Am 27. Oktober fand die Gesetzesvorlage in der russischen Duma, dem Unterhaus, eine klare Mehrheit. Das Gesetz soll in dieser oder den kommenden Wochen das Oberhaus passieren und von Kremlchef Wladimir Putin unterzeichnet werden. Das gilt jedoch als Formsache.
Der Entwurf sieht unter anderem vor:
Die Reaktionen im Land waren vielfältig, Verleger etwa meldeten, sie müssten wohl einige Bücher aus dem Sortiment nehmen. Tschaplygin sagt: «Ich erwarte, dass queere Menschen jetzt deutlich mehr unter Beobachtung geraten.»
Auffällig dabei: Das Gesetz wurde auch mit Blick auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine formuliert. Der Abgeordnete Alexander Chinstein, der den Entwurf in der Duma eingebracht hatte, erklärte auf Telegram, die «Spezialoperation» finde nicht nur auf dem Schlachtfeld statt, sondern auch «in den Köpfen der Menschen, in ihren Köpfen und Seelen». Russland kämpfe heute auch dagegen, dass es im Land irgendwann «Elternteil Nummer eins», «Nummer zwei», «Nummer drei» gebe. Er wolle «Mama und Papa».
Chinstein befeuert damit ein in Russland und in der Propaganda immer wieder bedientes Feindbild, das seit dem russischen Überfall auf die Ukraine noch öfter hervorgeholt wird. Die Argumentation: Russland verteidige sich gegen den« moralisch verdorbenen Westen», in dem Homosexualität floriere, traditionelle Werte keine Bedeutung mehr hätten und dies auch noch der ganzen Welt aufgezwungen werden sollte. Die russischen Truppen werden als heldenhafte Kämpfer gegen diesen «Irrsinn» gefeiert.
Der Abgeordnete redet von einer «zivilisatorischen Konfrontation» mit dem Westen und sieht die Zukunft des Landes bedroht, «die Gesundheit der Nation, die Demografie». Damit ist er ganz auf Linie von Kremlchef Wladimir Putin. Auch der wettert regelmässig gegen den «verweichlichten Westen». In Ansprachen macht er sich lustig über gleichgeschlechtliche Ehen oder das Gendern, wie zuletzt bei der Rede zur völkerrechtswidrigen Annexion vier ukrainischer Gebiete.
Ein Anti-Queer-Gesetz gibt es schon seit 2013 in Russland. Es verbietet die Aufklärung von Kindern über Themen wie gleichgeschlechtliche Liebe, Transidentität oder Intergeschlechtlichkeit. Minderjährige sollen so nach Meinung russischer Politiker und Politikerinnen vor «Homosexuellen-Propaganda geschützt» werden. Nicht immer wurde das Gesetz streng ausgelegt und Vergehen geahndet, doch nun soll es für alle Menschen in Russland und für sämtliche Medienformen gelten. Das wird als deutliches Signal an die Community gewertet, dass es ernst wird.
Forscher Nikolay Lunchenkov kennt diese Argumentation. «Schwul zu sein war noch nie einfach in Russland», sagt er. Lunchenkov arbeitet zum Thema sexueller Gesundheit und ist als Berater in diesem Bereich tätig. Er hat Kontakt zu vielen Anlauf- und Beratungsstellen in Russland. Inzwischen arbeitet er in München. In einem Videotelefonat erinnert er sich, wie vor einigen Jahren Dragqueens in Russland bei berühmten Neujahrsfeiern in grossem Rahmen auftreten konnten. Heute, meint er, sei das undenkbar.
Bereits mit dem Gesetz von 2013, sagt er, seien Menschen vorsichtiger geworden, über ihre Sexualität zu sprechen. Zeitgleich nahm ihm zufolge die Zahl von Menschen zu, die vor allem im Fernsehen immer öfter Menschen ungehindert über LGBTQIA herzogen. Lunchenkov schildert das als «Narrativ des Hasses»: Es sei normal geworden, in Shows erst gegen Schwule oder etwa Bisexuelle zu hetzen – dann über Ukrainer und dann vielleicht noch über Menschen aus Zentralasien. Alle – so die Logik – wollten Russland schaden. Die Propaganda arbeitete an ihrem Feindbild.
Heute, sagt Lunchenkov, wisse er von queeren Künstlerinnen und Künstlern, die nur noch an gut versteckten Orten aufträten; manche dächten über Emigration nach oder seien bereits gegangen. Er sieht durch das neue Gesetz aber vor allem auf Russlands Gesundheitswesen ein grosses Problem zukommen. Die Anlaufstellen, die bislang Aufklärungsarbeit leisten, fürchteten nun, die Menschen nicht mehr zu erreichen.
Sie dürfen keine Kampagnen mehr etwa zu sexueller Gesundheit, Kondomgebrauch oder HIV-Tests machen. Dadurch werde die Zahl der HIV-positiv-Fälle deutlich steigen, prophezeit Lunchenkov. Und: «Russland wird eine erhebliche Zunahme an Suiziden unter Teenagern erleben.» Diese würden durch fehlende Aufklärung allein gelassen. Schon jetzt sind beide Bereiche in Russland ein erhebliches Problem in der Gesundheitsversorgung.
Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisiert die geplante Gesetzesänderung scharf. LGBTQIA würden gesetzlich «diskriminiert und ihnen auf schamlose Weise ihr Recht auf freie Meinungsäusserung abgesprochen», schreibt die Direktorin für Osteuropa und Zentralasien, Marie Struthers, in einer Mitteilung. Sie geht von einer gesamtgesellschaftlichen Verschlechterung, stärkerer Gewalt und Hasskriminalität gegen diese Bevölkerungsgruppe aus.
Den Physikstudenten Tschaplygin beunruhigt das Gesetz auch wegen sogenannter «gay hunters». Die locken LGBTQIA-Menschen zu Dates, holen Verstärkung, verprügeln sie, rauben sie aus. Oft filmen sie ihre Opfer und stellen die Aufnahmen ins Internet. «Das Gesetz», sagt Tschaplygin, «gibt solchen Menschen das Gefühl, im Recht zu sein und dass sie vom Gesetz geschützt werden.»
Dabei ist Russland im Ranking der 49 queerfreundlichsten Länder Europas 2021 schon sehr weit nach hinten gerutscht – auf Platz 46. Schlechter schneiden nur Armenien, die Türkei und Aserbaidschan ab. Das Ranking beurteilt, wie gut queere Menschen auf Basis der Menschenrechte in den jeweiligen Ländern leben können. Russland erreicht gerade einmal 8,45 Prozent. Zum Vergleich: Malta führt die Liste mit 92,93 Prozent an, Deutschland liegt mit 53,34 im oberen, grünen Bereich und die Schweiz leicht dahinter mit 47,38 Prozent.
Angst machen lassen will sich der Moskauer Tschaplygin aber nicht. Zwar seien die pro-queer-Demos inzwischen tot. Aber er werde weiter über Homosexualität sprechen. Er sehe nicht ein, sein Leben zu ändern, sagt er. «Ich werde weiter Tinder nutzen und in schwulenfreundliche Clubs gehen.»
Die Geschichte von vor 90 Jahren wiederholt sich.
Da sag noch mal einer in der Russischen Föderation habe man keine Wahl. /s