Plötzlich stehen die Telefone der westlichen Staats- und Regierungschefs überhaupt nicht mehr still. Über abhörsichere Leitungen spricht Joe Biden im Weissen Haus mit dem Präsidenten der Ukraine , Wolodymyr Selenskyj , mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Der Grund: Wladimir Putin hat die beiden abtrünnigen Gebiete in der Ostukraine offiziell als unabhängig anerkannt und kündigte nach eigenen Worten sogleich eine «Friedensmission» seiner Streitkräfte in den betroffenen Gebieten an.
Fast eine Stunde lang musste der Westen zuvor aus Sicht des russischen Präsidenten im Kreml zum Nachsitzen kommen. Wohl orchestriert sass Wladimir Putin vor den Fernsehkameras des russischen Staatsfernsehens. Russia Today lieferte serviceorientiert die lupenreine englische Übersetzung mit.
Was folgte, war eine Art historisches Online-Proseminar aus Sicht des Kremlchefs. Es sollte eine Lektion für den Westen werden, eine Rechtfertigung für jegliche russische Unternehmungen. Es wurde eine Rede, welche die Welt, massgeblich Europa und seine entwickelte Sicherheitsarchitektur nach dem Kalten Krieg wohl für immer verändern wird. Und noch wissen die USA und ihre Verbündeten nicht, wie sie darauf konkret reagieren können. Zumindest nicht so, dass es wirklich noch helfen könnte.
Warum ist dies der Fall?
Nicht ohne Grund hielt Wladimir Putin diese öffentliche Geschichtsstunde. Der russische Präsident rechtfertigt sein gegenwärtiges und mögliches zukünftiges Handeln vor allem aus seiner Deutung der Vergangenheit ab. Aus der Geschichte lernen heisst für ihn, das Narrativ zu definieren.
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So griff Putin zurück auf die Anfänge der Sowjetunion , auch auf den russischen Diktator Josef Stalin . Putin sagte: «Die moderne Ukraine wurde komplett von Russland geschaffen.» Übersetzt heisst das, dieses Land existiert nur, weil Russland es zugelassen hat. Die Ukraine sei «nie eine wahre Nation» gewesen, so Putin. Es klingt wie der Versuch, der Ukraine damit auch das geltende Völkerrecht abzusprechen. Eine Nation, die keine wahre ist, hat auch keine Rechte. Die demokratisch gewählte Regierung in Kiew bezeichnet der Kreml nicht ohne Grund stets nur «als Regime».
In der Welt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, nach dem Zusammenbruch der UdSSR, so die Behauptung Putins, sei die Ukraine nie in der Lage gewesen, «selbst eine staatliche Stabilität zu erreichen». Sie sei deshalb immer auf andere Länder angewiesen gewesen, insbesondere auf die USA.
Es ist Putins nächstes Argument, die Geschicke der Ukraine bestimmen zu dürfen. Denn das Land, das kein wahres Land sei, werde vom Westen unterwandert. Das könne Russland «nicht ignorieren». Die Ukraine sei ein «Marionetten-Staat» des Westens und der USA. «Die Ukraine wird heute von aussen kontrolliert», so Putin. Der Westen kontrolliere «das ganze Land», massgeblich aus der US-Botschaft in Kiew heraus und über Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO).
Es fallen Sätze in Putins Rede, die alle ehemaligen Sowjetrepubliken betreffen. Den nationalen Republiken erlaubt zu haben, das russische Imperium zu verlassen, sei ein «Wahnsinn» gewesen, so Putins Sicht. Eine mögliche Drohung, nicht nur gegen Weissrussland und die Ukraine, sondern auch gegen heutige Nato-Mitgliedsstaaten wie Litauen und Lettland, gegen Georgien, Aserbaidschan und viele mehr. Diese Staaten würden ohnehin nur ein vorurteilsbeladenes Klischee von der angeblichen russischen Bedrohung in die Nato tragen, so Putin.
Der russische Präsident stellte weiterhin Mutmassungen an, die Ukraine könne als vom Westen angeblich unterwanderter Staat leicht und jederzeit an Nuklearwaffen kommen. Dass der Nato-Beitritt der Ukraine derzeit gar nicht anstehe, so wie es der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sagte, sei ihm egal. «Wenn nicht morgen, dann eben übermorgen», so Putin. Das ändere historisch nichts für Russland.
Die Nato habe der Sowjetunion versprochen, dass es keine Erweiterung nach Osten geben werde. Dieses Versprechen sei gebrochen worden. Mehr noch, Putin sagte, er habe im Jahr 2000 den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton gefragt, was dieser von einem Nato-Beitritt Russlands halte. Clinton habe dies abgelehnt. Und so sei es nach Putins Logik eben so, wie es nun sei. Russland setze sich zur Wehr, um Menschen in der Ukraine und überall sonst zu schützen. Und zwar jene, die nicht nur Russisch sprechen, sondern auch «Russisch denken» würden.
Putins lange historische Herleitung war keineswegs neu. Vor Jahren schon schrieb der Präsident einen Aufsatz, der versuchte, die Zugehörigkeit der Ukraine zu Russland historisch zu begründen.
Aber nach dieser öffentlich zelebrierten Nachhilfestunde für den Westen setzte Putin schliesslich seine Unterschrift unter Dokumente, die das Schicksal der Ukraine besiegeln sollen. Die Ostukraine gilt aus Russlands Sicht fortan als unabhängig. Putin bricht damit das Völkerrecht. Seine Rede soll dies verschleiern. Sie diente der Rechtfertigung eines Krieges gegen einen souveränen Staat, auch vor seiner eigenen Bevölkerung. Mit dieser Herleitung liessen sich zahlreiche weitere Interventionen rechtfertigen. Überall dort, wo russische Minderheiten leben.
Eine Gefahr besteht längst nicht nur für die Ukraine. Ob Flüchtlingsbewegungen oder Verwicklungen von ukrainischen Soldaten, die in westliche Staaten fliehen, in Kampfhandlungen – all das könnte dramatische Auswirkungen auf Europa und die ganze Welt haben. Mit russischen Truppen in der Ukraine und in Weissrussland stünden sie gefährlich nahe an Nato-Staaten im Baltikum und Polen. Der sogenannte Bündnisfall nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags könnte viel wahrscheinlicher eintreten als jemals seit Ende des Kalten Krieges.