Es war eines jener Erlebnisse, die man niemals vergisst. Am Wahlabend 2016 weilte ich in Manhattan. Ich war mir ziemlich sicher, dass Hillary Clinton zur ersten US-Präsidentin der Geschichte gewählt wird. Praktisch alle Umfragen und Prognosen deuteten auf diesen Ausgang der Präsidentschaftswahl hin. Dann kam es bekanntlich ganz anders.
Donald Trump warf alle Erwartungen über den Haufen und errang einen Sieg, mit dem er selbst nicht gerechnet hatte. Die Schockwellen dieser denkwürdigen Nacht wirken bis heute nach. Denn mit Kamala Harris versucht erneut eine Demokratin, als erste Frau ins Weisse Haus einzuziehen. Und der Gegner heisst wie vor acht Jahren Donald Trump.
Bereits gibt es Stimmen, die vor einem ähnlichen Ausgang warnen. Sie verweisen darauf, dass die heute 76-jährige Clinton rund zwei Monate vor der Wahl in den Umfragen deutlicher in Führung lag als die 59-jährige Harris. Dabei ist Trump ein verurteilter Vergewaltiger, und er schreckt gegenüber Harris nicht vor vulgären und sexistischen Attacken zurück.
Der glanzvolle Parteikonvent in Chicago scheint Harris ebenfalls nicht den grossen Schub in den Umfragen beschert zu haben. Muss sie also befürchten, das gleiche Schicksal zu erleiden wie Hillary Clinton? Für eine solche Prognose ist es viel zu früh, und in mehreren wichtigen Punkten ist die Vizepräsidentin klar im Vorteil gegenüber der Ex-First-Lady.
Hillary Clinton stieg nicht unbelastet in den Wahlkampf 2016. Sie schleppte einen Rucksack an Skandalen mit sich herum. Diese reichten zurück bis in die Zeit, als sie und Ehemann Bill das «First Couple» im Bundesstaat Arkansas waren. Dazu gehörte «Whitewatergate», eine Affäre um ein gescheitertes Immobilienprojekt, in das die Clintons involviert waren.
Der Suizid des Anwalts Vince Foster, der nach Bill Clintons Wahlsieg 1992 einen Job im Weissen Haus erhalten hatte, wurde Hillary angelastet. Rechte Kreise munkelten, sie habe mit Foster eine Affäre gehabt. Auch Bills Seitensprünge etwa mit der Praktikantin Monica Lewinsky färbten auf seine Ehefrau ab und wurden von Trump ausgeschlachtet.
Als Aussenministerin in Barack Obamas erster Amtszeit hatte Hillary Clinton zahlreiche E-Mails über einen privaten Server verschickt. Das FBI fand keine Hinweise für kriminelles Verhalten, doch als kurz vor der Wahl 2016 einige Mails auf einem Laptop auftauchten, wurde eine neue Untersuchung eingeleitet. Sie hat Clinton womöglich den Sieg gekostet.
Diese Skandale beschädigten Hillary Clintons Image und waren ein gefundenes Fressen für Donald Trump. Kamala Harris hingegen ist nicht ansatzweise eine ähnliche «Skandalnudel». Bislang jedenfalls gelang es den Republikanern nicht, irgendwelchen Schmutz aus ihrer Vergangenheit auszugraben, mit dem sie die Kalifornierin bewerfen könnten.
Mangels Skandalen greift man ihren Leistungsausweis als Vizepräsidentin an. Weil Joe Biden ihr die Migrationskrise an der Südgrenze aufgebürdet hatte, wird sie als «Grenzzarin» diffamiert. Doch seit die Asylregeln im Juni verschärft wurden, ist die Zahl der irregulären Grenzübertritte gesunken. Auch in den Umfragen hat das Thema an Brisanz eingebüsst.
Hillary Clinton trat als hochintelligente und bestens qualifizierte Kandidatin an. Doch bezüglich Charisma und Auftreten hatte sie Defizite. Oft wurde sie als kühl und distanziert beschrieben. Ihre Gesten wirkten einstudiert. Diese Punkte schadeten ihr bereits bei der verlorenen Vorwahl gegen Barack Obama 2008.
Kamala Harris ist ebenfalls nicht sonderlich charismatisch und eloquent. Doch sie wirkt deutlich sympathischer und zugänglicher als ihre «Vorvorgängerin». Wie diese trägt sie bevorzugt Hosenanzüge, doch gleichzeitig hat sie Mut zum unkonventionellen Look. Mit Converse-Turnschuhen jedenfalls hätte sich Hillary Clinton kaum gezeigt.
Hinzu kommt ein weiterer Aspekt. Hillary Clinton hat ihre Rolle als mögliche erste Frau im Oval Office und das Durchstossen der «gläsernen Decke» penetrant hervorgehoben. Kamala Harris hingegen betont weder ihr Geschlecht noch ihren multiethnischen Background. Nach Ansicht von Beobachtern ist dies die bessere Strategie gegen Donald Trump.
Ein Problem für Hillary Clinton war, dass sie vor acht Jahren kein zugkräftiges Thema hatte. Kamala Harris hat es besser, dank des Abtreibungsurteils des Obersten Gerichtshofs vor zwei Jahren. Der Unmut darüber hat sich seither kaum gelegt. In der jüngsten Umfrage der «New York Times» hat es bei vielen Frauen die Wirtschaft als Topthema abgelöst.
Harris hat die Abtreibungsfrage schon als Vizepräsidentin intensiv «bearbeitet», was ihr als Kandidatin zugutekommt. Donald Trump hingegen tut sich schwer damit. Kürzlich kritisierte er das in seiner Wahlheimat Florida geltende Abtreibungsverbot ab der sechsten Schwangerschaftswoche und schlug vor, der Staat solle künstliche Befruchtungen bezahlen.
Damit erregte er den Zorn der «Pro Life»-Community. Sie verlangt totale Abtreibungsverbote und hält nur die natürliche Zeugung für gottgewollt. Trump steckt in der Klemme, denn im November wird in zehn Bundesstaaten abgestimmt, ob Abtreibungen in der Verfassung verankert werden. Dazu gehören wichtige Swing States wie Arizona und Nevada.
Kamala Harris ist in mancher Hinsicht besser aufgestellt als Hillary Clinton 2016. Dennoch bleibt das Rennen in den Umfragen knapp (sofern man diesen trauen kann). Sie ist nun einmal Joe Bidens Vizepräsidentin und kann oder will sich nur bedingt von dessen unpopulärer Politik distanzieren. Im Vergleich mit ihm aber hat sie stark zugelegt.
Noch deutlicher ist der Anstieg beim Enthusiasmus der demokratischen Wählerschaft, der um einiges höher ist als bei Hillary Clinton vor acht Jahren. Dieser Aspekt ist wichtig bei der Mobilisierung, gerade in den Swing States. Mit dem Ende der Sommerferien diese Woche werden in einzelnen Staaten bereits die Unterlagen für die Briefwahl verschickt.
Schliesslich kommt hinzu, dass viele Amerikanerinnen und Amerikaner noch immer nicht genau wissen, wer Kamala Harris ist und wofür sie steht. Hillary Clinton hingegen war 2016 als ehemalige First Lady und Aussenministerin eine allseits bekannte Grösse. Umso wichtiger wird für Harris die erste Fernsehdebatte mit Donald Trump am nächsten Dienstag.