Wer Donald Trump beim Wahlkampf zusieht, hat ständig das Gefühl, auf einer Familienparty zu sein. Und wenn Jill Biden ihren Mann Joe wieder mal vorsichtig von der Bühne führt, ist man selbst peinlich berührt.
Solche Einblicke ins Privatleben der US-Präsidenten gibt es schon länger. Wie damals, wenige Tage nachdem der US-Präsident Bill Clinton seine Beziehung zu Monica Lewinsky gestanden hatte: Bill, Hillary und ihre Tochter Chelsea 1998 schritten vereint zum Helikopter, der sie in die Familienferien brachte. Dann die wandfüllenden Familienbilder der Bushs. Michelle Obama mit ihren süssen Töchtern bei der Wahlfeier 2008 …
Das Familienglück – und manchmal die Dramen – gehören zur US-Politik wie pathetische Reden und markige Slogans. Vielleicht wählen die Amerikanerinnen und Amerikaner am 5. November zum ersten Mal in der Geschichte ihres Landes eine Frau ins Präsidentenamt. Noch dazu eine Schwarze ohne eigene Kinder. Es scheint möglich.
Wen man auch fragt, darauf gibt es keinen Widerspruch. Doch warum ist das so? Und gilt das tatsächlich nur für Amerika?
Politikwissenschafter Martin Thunert am Heidelberg Center für American Studies sagt: «Die US-Amerikaner haben keine königliche Familie, und zudem ist im Präsidentenamt das oberste Ministeramt und die Präsidentschaft vereint.» Während in Deutschland Frank-Walter Steinmeier eine Art Landesvater darstellen könne, müsse ein US-Präsident beide Funktionen erfüllen. «Ein Präsident – oder eine Präsidentin», sagt Thunert, «muss daher auch immer die Familie darstellen, mit welcher sich das ganze Land identifizieren kann.»
Isabel Heinemann hat über die amerikanische Familie 2018 ihre Habilitation geschrieben. Die Historikerin sagt:
Doch es geht bei der Inszenierung der Präsidentenfamilie nicht, wie das Europa vielleicht wahrnimmt, nur um die Seifenoper der öffentlich verhandelten Beziehungsgeschichten der US-Präsidenten und ihren Familien.
Viele Amerikanerinnen und Amerikaner – eigentlich die meisten – leben gar nicht das idyllische Familienmodell. Sie sind geschieden, homosexuell, arm, vaterlos oder leben das Patchwork-Modell. Aber vorne auf der Bühne nicht nur den Präsidenten zu sehen, sondern die ganze private Story, bedeute, «Sie sind welche von uns», erklärt Heinemann. Die Wähler würden sich wiedererkennen, zumindest in ihren Sehnsüchten. Und das ist in einem Land, in dem immense Zentrifugalkräfte wirken, wichtig. Die Präsidentschaftsfamilie, eher weiss, unbedingt christlich, bis jetzt ausschliesslich männlich geführt, ist der gemeinsame Nenner einer Nation, die diverser nicht sein könnte in Bezug auf Herkunft, Religion und Wohlstand.
Und diese gesellschaftliche Komplexität steigerte sich in der Nachkriegszeit enorm. Begonnen hat die Überhöhung der amerikanischen Kernfamilie denn auch in der Mitte des letzten Jahrhunderts mit den Kennedys. Nicht zuletzt durch Jackie Kennedy. Der Tag, an dem J. F. K. beerdigt wurde, war gleichzeitig der dritte Geburtstag seines Sohnes. Dass dieser am Grab seines Vaters salutierte, war kein Zufall: Seine Mutter hatte in den Monaten zuvor gewollt, dass er den Salut übte für einen anstehenden Besuch am Grab des unbekannten Soldaten, bei dem der Dreijährige J. F. K. medienwirksam hätte begleiten sollen.
Seit den Kennedys ist auch klar, wozu die Familie sonst noch gut ist: Die Mitglieder sind zuverlässige Wahlhelfer. «Und nicht nur die Ehefrauen, auch die Brüder und Schwestern, sind Helfer, auf die man sich verlassen kann», sagt Politologe Thunert. So veranstalteten die drei Geschwister von J. F. Kennedy Tea Parties, weil der Präsidentschaftskandidat unmöglich überall auftreten kann.
Auch erwachsene Kinder sind im Wahlkampf nützlich – wie Trump zeigt: Nun, da seine Frau Melanie kaum noch an seiner Seite zu sehen ist, sind seine Kinder Donald Jr, Ivanka und Eric umso präsenter.
Die Familie birgt auch Risiken. So wurde Joe Biden Sohn Hunter zur Hypothek für den Präsidenten, als er wegen Steuerhinterziehung und Waffenkauf angeklagt wurde. Auch nicht förderlich für Donald Trump war, dass sich seine Nichte, Mary Trump, kürzlich öffentlich über den in ihren Augen misslungenen Parteitag der Republikaner lustig machte. Doch selbst ein geschiedener Kandidat mit einer zerstrittenen Familie sei besser als einer ohne, glaubt Graham Hill, Soziologe an der Universität Bern.
Bis jetzt zeigt die Geschichte der US-Politik jedenfalls zweifellos: Eher kommt ein Mann, der seine Frau betrügt, ins Weisse Haus, als dass ein unbescholtener Single das schafft. Der einzige US-Präsident, der weder verheiratet, geschieden noch verwitwet war, war vor über 150 Jahren im Amt und dazu erst noch ein schlechtes Vorbild: James Buchanan (1857-1861), Demokrat und Vorgänger von Abraham Lincoln, ging als einer der miserabelsten Präsidenten in die Geschichte ein, weil er den Norden des Landes ebenso wie den Süden erzürnte und nach ihm der Sezessionskrieg ausbrach.
«Statistisch gesehen ist es eigentlich überraschend, dass es so wenige Singles in der Politik gibt», sagt Graham Hill. Immerhin leben im Alter von 45-54 Jahren 12 Prozent der US-Bevölkerung als Singles. Im selben Altersabschnitt sind in der Schweiz 16 Prozent der Männer alleinstehend und 14 Prozent der Frauen. Doch auch Hill ist überzeugt, dass eher ein homosexueller Kandidat, der wie der ehemalige Kandidat der Demokraten, Pete Buttigieg, der in Partnerschaft lebt, Präsident werden könnte als ein Single.
Obwohl es für fast alle Minderheiten in den USA – Migranten, Leute mit Behinderungen, solche mit anderen sexuellen Orientierungen oder für Frauen – eine Bewegung gibt, die sich für ihre Rechte einsetzt, gibt es für Singles keine solche Lobby. Graham Hill erklärt sich das so, dass Singles ausser in der Politik im Leben keine Nachteile hätten, beim Bewerben auf hohe Posten in der Wirtschaft beispielsweise.
In der Schweiz gibt es eine Lobby für Singles: Pro Single Schweiz, heisst die Organisation, die 2017 gegründet wurde. Sie hat sich vor allem die finanzielle Benachteiligung der Alleinstehenden im Steuersystem auf die Fahne geschrieben.
Soziologe Hill sagt es so: «Auf der unbewussten Ebene denken viele, dass Singles einen Makel haben, ein Fehler, sonst wären sie doch nicht alleine. Es wirft Fragen auf, gar Misstrauen.» In der Politik sei das ein entscheidender Nachteil:
Heinemann bestätigt: «Eine Familie wird als Ausweis genommen, dass der Kandidat sozial kompetent ist und für die Republik sorgen wird.» Auch wenn das alles natürlich keine Garantie sei, was Trumps korrupte und machtbesessene Familie zeige.
Das Argument jedenfalls, dass ein Single den Kopf frei und vermutlich mehr Zeit für sein Amt hat, zählt in Amerika nichts. «Natürlich sind die Vorurteile diskriminierend, aber ich denke dennoch nicht, dass sich das so schnell ändern wird», sagt Heinemann.
Das Phänomen der liierten Präsidenten ist laut Hill in Amerika am ausgeprägtesten. Aber auch in Europa sei eine Partnerschaft immer von Vorteil. Angela Merkel zwar eher zufällig auch verheiratet. Aber Hill ist überzeugt, dass das trotzdem relevant war:
Dabei funktioniert es auch umgekehrt: Erfolg macht zumindest Männer attraktiv und deshalb gibt es vermutlich gar nicht so viele alleinstehende Politiker auf dem Weg nach oben. Wer will, findet dann vermutlich eine Partnerin.
In Argentinien scheint Javier Milei kein Interesse an einer Partnerschaft zu haben – er ist als Single eine Ausnahme. Der Präsident verlässt sich dafür auf seine Schwester als engste Vertraute. Doch selbst der exzentrische Mileil hatte – Zufall oder nicht – während seiner Wahlkampagne von Juli 2023 bis April 2024 eine Beziehung mit einer argentinischen Schauspielerin.
Es gibt nur eine Staatsform, in der es komplett egal ist, wenn ein neuer Präsident oder eine neue Präsidentin nicht liiert ist: Diktaturen. Deren Ehepartner treten zwar durchaus auch auf und können ein Sympathiefaktor sein. «Aber um in das Amt zu kommen, sind sie bedeutungslos», sagt Martin Thunert.
Ein deutlicher Unterschied zu Europa gibt es aber: Man kann problemlos ohne Kinder Präsident werden, wie Merkel, Scholz oder auch Macron zeigen. Kamala Harris aber muss jetzt auf Nichten oder Stiefkinder zurückgreifen, um einen erfolgreichen Wahlkampf zu führen. Ohne ihren Ehemann Douglas Emhoff, dessen Kinder aus erster Ehe sowie die Tochter Maya ihrer Schwester hätte Kamala Harris keine Chance.
«Die Familienbilder ändern sich in Amerika durchaus, aber etwas mit Familie muss es immer noch sein», sagt Politologe Thunert. Egal durch welchen sozialen Prozess das Land gerade geht: «Die Familie verspricht eine Erdung und widerspiegelt die Werte», sagt Heinemann.
Momala nennen die Stieftöchter Harris. Solches und andere erzählte Liebesgeschichten sind der Grund, warum J.D. Vance, der an der Seite von Donald Trump als Vize-Präsident kandidiert, seinen Satz von 2021 in Anspielung auf Harris wohl bereut, gemäss dem die demokratische Partei unter anderem von einer Horde kinderloser, unglücklicher Katzenfrauen geführt werde.
Der Satz perlt nun nachträglich nicht nur ab, er ist ein Schuss ins eigene Bein. Denn Familie kann, wie auch Politologe Thunert sagt, in Amerika inzwischen weit gefasst werden. Ja, es ändert sich was.
Hillary Clinton ist das 2016 nicht gelungen. «Hillary war den Amerikanern zu wenig herzlich und zu wenig glaubwürdig in dieser Rolle», sagt Heinemann. «Und doch ist, dass Kamala Harris jetzt eine Chance hat – eine Frau, noch dazu ohne eigene Kinder –, ein grosser, nie da gewesener Schritt.» (aargauerzeitung.ch)
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