Es war ein 39-minütiges Video – bekannt geworden als «collateral murder» –, das die USA in eine Krise stürzte. Es zeigt zwei amerikanische Helikopter, die auf eine Gruppe irakischer Männer schiesst. Was die amerikanischen Soldaten als Waffen identifizierten, waren unter anderem die Kameras von zwei Pressejournalisten. Die Gruppe ging zu Boden. Als wenige Minuten später ein Kleinbus erscheint und versucht, die Verletzten und Toten zu bergen, eröffnen die Amerikaner das Feuer erneut.
Das Video war Teil von rund 750'000 teils klassifizierten Dokumenten, welche die amerikanische Nachrichtendienstanalytikerin Chelsea Manning Anfang 2010 an die Enthüllungsplattform Wikileaks geschickt hatte. Wegen der anschliessenden Veröffentlichung dieser Dokumente droht Wikileaks-Gründer Julian Assange in den USA der Prozess – und damit bis zu 175 Jahre Haft. Der Wikileaks-Gründer kann gegen die drohende Auslieferung aber noch einmal Berufung einlegen, wie der Londoner High Court am Montag entschieden hatte.
Chelsea Manning ist seit 2017 auf freiem Fuss. Wie ist das möglich? Ein Blick auf Mannings Werdegang und die Leaks, welche die Welt erschütterten.
Chelsea Manning, geboren 1987 als biologischer Mann Bradley Channing in Oklahoma City, hat eine turbulente Vergangenheit. Aufgewachsen bei alkoholsüchtigen Eltern, litt Manning schon früh unter Geschlechtsinkongruenz (auf Englisch gender dysphoria) – dem Gefühl, im falschen Körper zu stecken. Im britischen Wales, wo sie und ihre Mutter nach deren Scheidung hingezogen waren, wurde die damals 14-jährige Manning aufgrund ihres Akzents und ihrer Weiblichkeit gemobbt. 2005, im Alter von 17 Jahren, kehrte sie in die USA zurück, wo sie sich mit diversen Jobs über Wasser hielt. Auf Drängen ihres Vaters trat sie 2007 in die Armee ein und hoffte damit unter anderem, ihre Geschlechtsinkongruenz überwinden zu können, wie sie später erzählte.
Auch im Militär wurde sie gemobbt. Dennoch schloss sie die Basisausbildung ab und liess sich zur Nachrichtendienstanalytikerin ausbilden. Nach weiteren Trainings wurde sie 2008 im Irak stationiert und erhielt die Freigabe für die Geheimhaltungsstufen «Top Secret / Sensitive Compartmented Information».
Ihre internen Konflikte nahmen stetig zu: Während sie weiter mit ihrer Gender Dysphoria kämpfte und ihre Homosexualität in der Armee verstecken musste, hegte sie eine tiefe Abneigung gegen den Irak-Krieg, in den sie verwickelt war. Die Informationen, mit denen sie sich täglich auseinandersetzen musste, empörten sie, doch sie konnte mit niemandem darüber reden. Sie fühle sich alleine und hoffnungslos, wie sie im Januar 2010 auf Facebook schrieb.
Sie beschloss zu reagieren: Sie lud 400'000 Dokumente aus der Irak-Datenbank und 91'000 Dokumente aus der Afghanistan-Datenbank herunter und brannte sie auf CDs. Unter anderem in einer «Lady Gaga»-CD-Hülle schmuggelte sie das Material durch die Sicherheitszone und kopierte es danach auf ihren persönlichen Computer. In einer zu den Daten dazugehörigen Text-Datei schrieb Manning:
Als sie für zwei Wochen Ferien in die USA zurückkehrte, kontaktierte sie die «Washington Post» sowie die «New York Times» und fragte die beiden Zeitungen, ob sie an dem Material interessiert seien. Die «Washington Post» zeigte wenig Interesse, die «New York Times» antwortete nicht, erzählte Manning Jahre später gegenüber der Vogue.
Am 3. Februar, kurz vor ihrer Rückkehr in den Irak, schickte Manning die Dokumente schliesslich über das Darknet an Wikileaks. Über die nächsten Monate hinweg liess sie noch weiteres Material folgen – darunter die eingangs erwähnte Helikopter-Attacke.
Das Video, welches von Wikileaks am 5. April 2010 veröffentlicht wurde, erhielt zunächst vor allem Aufmerksamkeit auf YouTube und auf Blogs, bevor es von den Massenmedien aufgegriffen wurde und Millionen von Menschen empörte.
Im Mai 2010 kontaktierte Manning den Hacker Adrian Lamo, der sich Jahre zuvor in das Netzwerk der «New York Times» gehackt hatte. Sie suchte keinen Verbündeten, sondern lediglich jemanden, der sie verstand. Jemanden, mit dem sie über alles reden konnte. Sie schickte ihm diverse verschlüsselte E-Mails, die er allerdings nicht öffnen konnte. Seine Neugier war aber geweckt und er lud sie in einen Chatroom ein.
Dort kam Manning direkt zum Punkt, stellte sich als Nachrichtendienstanalytikerin der US-Armee vor und gab zu, klassifiziertes Material veröffentlicht zu haben – ohne auf eine Antwort von ihm zu warten. Er schrieb ihr erst Stunden später zurück und versprach ihr Geheimhaltung, worauf sie ihm von ihrer Zusammenarbeit mit Wikileaks erzählte. Dabei betonte sie stets, dass sie ihm bloss geschrieben habe, weil sie sich so isoliert fühle:
Bei Lamo aber schrillten alle Alarmglocken. Er machte sich Sorgen, dass das geleakte Material Millionen von Menschenleben gefährden könnte. Am 25. Mai, noch während er mit Manning in Kontakt war, informierte er deshalb das FBI über ihre Behauptungen. Am 26. Mai wurde sie im Irak festgenommen, worauf sich sowohl Wikileaks als auch die allgemeine Hacker-Community empört über Lamos' Verrat zeigten. In einem Gast-Beitrag bei The Guardian verteidigte er 2013 seine Entscheidung:
Im Juli 2010 wurde Manning zum ersten Mal angeklagt, im Februar 2013 bekannte sie sich in 10 von 22 Anklagepunkten für schuldig. In ihrer Rede vor Gericht bestritt sie vehement, eine Staatsfeindin zu sein. Sie hätte stattdessen die Menschen zum Umdenken anregen wollen, zitiert sie der Guardian.
Am 30. Juli 2013 wurde Manning vor einem Militärgericht in Fort George G. Meade in 19 von 22 Anklagepunkten schuldig gesprochen und am 21. August zu 35 Jahren Haft verurteilt. Einen Tag nach Aussprechen des Urteils teilte Mannings Anwalt in einer Medienmitteilung mit, dass seine Klientin weiblich sei und fortan Chelsea genannt werden wolle.
Im November 2016 reichte Manning beim damaligen US-Präsidenten Barack Obama eine Petition ein, in der sie ihn bat, ihre 35-jährige Haftstrafe auf ihre bereits sechs abgesessenen Jahre (inklusive Untersuchungshaft) zu reduzieren. Obama kam ihrer Bitte nach: Am 18. Januar 2017 gab er bekannt, die Strafe Mannings umzuwandeln. Die ursprüngliche Haftstrafe sei «sehr unverhältnismässig im Vergleich zu dem, was andere Leaker erhalten haben», begründete er.
Am 17. Mai 2017 wurde Manning aus der Haft entlassen, kam aber zwei Jahre später erneut ins Gefängnis. Grund dafür war ihre Weigerung vor Gericht zu Wikileaks auszusagen, wofür sie fast ein Jahr in Beugehaft sass. Seither aber ist sie auf freiem Fuss.
Nicht so Wikileaks-Gründer Julian Assange.
Nach der Veröffentlichung der geheimen Militärdokumente wurde Julian Assange von den USA scharf kritisiert. Diverse Stimmen forderten einen Strafprozess und sogar seine Hinrichtung.
Zur etwa selben Zeit, Mitte August 2010, gingen zwei Frauen zur schwedischen Polizei, wo sie Assange sexueller Vergehen beschuldigten. Nachdem die schwedische Justiz im darauffolgenden November einen internationalen Haftbefehl gegen Assange ausgestellt hatte, stellte er sich in London der Polizei. Dort wurde er gegen Kaution und unter Auflagen wieder freigelassen. In der folgenden Zeit versuchte er, seine Auslieferung nach Schweden zu verhindern, gab dieses Vorhaben jedoch im Juni 2012 auf. Er flüchtete in die ecuadorianische Botschaft in London, wo er politisches Asyl beantragte und erhielt.
Dort verbrachte er sieben Jahre, bis ihm Ecuador am 11. April 2019 das politische Asyl entzog und er festgenommen wurde. Ein britisches Gericht verurteilte den 47-Jährigen zu 50 Wochen Gefängnis, weil er mit seiner Flucht in die Botschaft gegen Kautionsauflagen verstossen und sich der britischen Justiz entzogen hatte. Direkt nach seiner Verhaftung verlangten die USA die Überstellung Assanges, womit das juristische Tauziehen um seine Auslieferung begann.
Am Montag gab der Londoner High Court dem Berufungsantrag des gebürtigen Australiers teilweise statt. Eine unmittelbare Überstellung des 52-Jährigen an die USA ist damit zunächst abgewendet.
Zuvor hatten Assanges Anwälte die Richter in einer knapp zweistündigen Anhörung davon überzeugt, dass der Australier seine Argumente in einem vollen Berufungsverfahren darlegen darf.
Neben dem nun anstehenden Berufungsverfahren dürften Assanges Unterstützer ihre Hoffnungen vor allem auf eine politische Lösung setzen. Die australische Regierung setzt sich inzwischen für eine Freilassung ihres Staatsbürgers ein. Erst kürzlich verabschiedete das australische Parlament einen Beschluss, in dem die USA und Grossbritannien aufgerufen wurden, die Strafverfolgung Assanges zu beenden.
Mit Material der Nachrichtenagenturen sda und dpa.
Schade, ein schönes Land ruiniert sich selbst.