Kurz nach der Wiederwahl von Donald Trump schien sich eine Erklärung für seinen Sieg abzuzeichnen. Die schlechte Wirtschaftslage habe den Ausschlag gegeben, insbesondere die hohe Inflation. Es schien sich zu bestätigen, was ein Stratege von Bill Clinton einst sagte:
Doch sogleich widersprachen viele Experten, vor allem den Demokraten nahestehende. Die Preise seien zwar stark gestiegen, die Löhne aber noch mehr. Der Arbeitslosigkeit sei so tief gewesen wie in 50 Jahren nicht mehr, und Joe Biden und Kamala Harris hätten insgesamt viel für den Mittelstand und die «Arbeiterklasse» erreicht.
Vielmehr habe Trump mit seiner Hetze latenten Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit geweckt. Oder es habe an den Medien gelegen, wie der «New York Times» oder den Trump nahestehenden «X» und «Fox News». Sie hätten Bidens Wirtschaft schlechtgeredet, sodass Trump letztlich dank falsch informierter Wähler gewinnen konnte. Rassismus, Propaganda – es sind triste Erklärungen.
Doch es dürften die falschen sein. Die Inflation dürfte doch den Ausschlag gegeben haben, obwohl die Wirtschaft boomte und die Löhne schneller stiegen als die Preise. Das legt eine neue Studie nahe, die neue Antworten auf eine alte Frage gibt:
Denn die Inflation könnte ja eigentlich egal sein, solange die Löhne gleich stark oder stärker steigen als die Preise. In Aldi, Lidl, Migros oder Coop mag alles mehr kosten, aber was kümmert mich das, wenn mein Lohn gleich stark gestiegen ist – ich kann immer noch gleich viel einkaufen. Das wäre an sich logisch. Doch so funktioniert es nicht.
Die Wahrnehmung sei eine andere, heisst es in der Studie. Die Menschen sehen zwar, dass allerlei teurer wird und dass zugleich auch ihr Lohn hochgeht. Aber sie sind überzeugt, dass die Löhne nicht Schritt halten und hinter den Preisen zurückbleiben. Ihr Eindruck ist, dass ihre Kaufkraft unter dem Strich sinkt, sie weniger für ihr Geld erhalten und sich einschränken müssen.
Woher kommt diese Wahrnehmung? Gemäss der Studie sind die Menschen davon überzeugt, dass sie als Kunden und Arbeitnehmende von den Arbeitgebenden und Unternehmen übervorteilt werden. Diese würden ihre Macht, um sich fairen Lohnerhöhungen zu widersetzen und ihre Gewinne zu steigern. Darum gehe die Inflation schlussendlich zulasten der Konsumenten.
Der Ärger über die Inflation wird noch verstärkt durch die Art und Weise, wie Lohnerhöhungen wahrgenommen werden: nämlich erst gar nicht als Ausgleich für die Preiserhöhungen. Sie werden auch nicht als Folge einer boomenden Wirtschaft gesehen, in der es zwar hohe Inflation gibt, aber dafür viele Jobs, wenig Arbeitslose und hohes Lohnwachstum.
Lohnerhöhungen haben mit der Inflation nichts zu tun. In den Köpfen der Menschen sind sie das eigene Verdienst, Entschädigung für die Leistung am Arbeitsplatz oder für eine Beförderung. Insbesondere sehen das Menschen so, die in Zeiten von hoher Inflation den Job gewechselt haben.
Alles in allem ist Inflation also politisch toxisch. Sie löst Gefühle wie Wut und Angst aus. Gerade weniger gut gestellte Menschen sorgen sich um ihre Zukunft, kaufen weniger oder schlechtere Waren. Und sie empfinden Inflation als ungerecht, da gut verdienende Menschen sie besser verkraften können oder vermutlich grössere Lohnerhöhungen erhalten. Für all das machen die Menschen die Regierungen verantwortlich.
Auch bei den diesjährigen US-Wahlen dürften das Stimmvolk die Amtsinhaber verantwortlich gemacht haben für die hohe Inflation. Der Ökonom Paul Krugman schreibt auf dem Social-Media-Dienst Bluesky, bei den Lohnerhöhungen hätten die Wähler geglaubt, sie hätten sie sich selbst verdient; bei der Inflation dagegen, «das hat Biden getan». Es sei daher fast ein Wunder, dass Harris nicht deutlicher unterlegen sei.
This place has now become big enough to do what Muskland used to do — give me a sense of what smart people are thinking and, importantly, what they don't know. For example, it turns out that many aren't aware that it's well established that most people don't connect wage growth with inflation 1/
— Paul Krugman (@pkrugman.bsky.social) November 16, 2024 at 1:15 AM
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Given all this, I don't have much patience for all the recriminations among Democrats. It's almost a miracle that they came as close as they did. The real mystery of US politics is how the GOP was taken over by such horrible people 5/
— Paul Krugman (@pkrugman.bsky.social) November 16, 2024 at 1:27 AM
Zur These der politisch toxischen Inflation passt das globale Bild. Ein Datenjournalist der «Financial Times» (FT) durchwühlte die Datenbank ParlGov, welche die Wahlergebnisse demokratischer Länder aus den letzten 120 Jahren enthält. Es zeigte sich, dass es ein politisches Jahr wie 2024 zuvor nie gegeben hat.
In zehn grossen Ländern gab es 2024 nationale Wahlen. Neben den USA auch in Japan und Indien, Frankreich oder Grossbritannien. Und jedes Mal wurden die Amtsinhaber von den Wählern abgestraft. Sie verloren Stimmen. Jedes Mal. Die FT titelte darum:
Wenn überall auf der Welt die Amtsinhaber verlieren, dürfte auch die Erklärung ein globaler Trend sein. Und die Inflation, die auf die Coronapandemie folgte, war ein solcher Trend. Sie war in knapp 30 Ländern während der letzten zwei Jahre die grösste Sorge der Menschen. Die FT schrieb deshalb, das Umfeld sei für Amtsinhaber so feindlich gewesen wie wohl nie in der Geschichte.
(aargauerzeitung.ch)