Mehr Bildung und weniger Armut versprach Xi Jinping einst. Heute weiss man: Xi machte keine leeren Versprechungen. Chinas Jugend ist so gebildet wie noch nie und die extreme Armut ist stark zurückgegangen. Dennoch zweifeln immer mehr Chinesinnen und Chinesen an der Politik des Vaters der Anti-Armut-Kampagne. Dies zeigt die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die ein Schlaglicht auf die Schattenseiten des chinesischen «Wirtschaftswunders» wirft.
Mehr Bildung – dieses Versprechen hat Xi eingelöst. Chinas Jugend ist gemessen an den Abschlüssen so gebildet wie noch nie. Dennoch haben viele Hochschulabsolventinnen und -absolventen Mühe, eine angemessene Anstellung zu finden.
Jede fünfte Person zwischen 16 und 24 Jahren ist arbeitslos – und das sind nur die offiziellen Zahlen. Einen Rekordwert verzeichnen auch die Studienabgänge: Aufgrund der Pandemie seien viele Abschlussprüfungen verschoben worden. Millionen von Hochschulabsolventen drängten deshalb verzögert auf den Arbeitsmarkt. Und dies, während Chinas Wirtschaft stockt.
«Es gibt zu viele Absolventen. Und in der Informatikbranche läuft es schlecht. Ich bin also gleich doppelt betroffen», sagt der 24-jährige Softwareentwickler Shi Wei aus Hangzhou, der eine Anstellung als Webentwickler sucht, gegenüber SRF.
Aufgrund der Arbeitsnot nehmen junge Berufstätige niedrige Entlöhnung sowie Überstunden in Kauf. Diese Erfahrung machte der 32-jährige Jack Zheng, der bei einem chinesischen Technologieriesen angestellt war. Jeden Tag habe er ausserhalb seiner Arbeitszeit rund 7000 Textnachrichten beantworten müssen, wie er gegenüber BBC erzählt. Diesen Arbeitsaufwand bezeichnet er als «unsichtbare Überstunden», die erwartet, aber nicht entschädigt werden. Den Job habe er aufgrund mangelnder Erholung aufgeben müssen. Der Stress habe bei ihm eine schlimme Hauterkrankung hervorgerufen.
Ausgebrannt ist auch die 29-jährige Spieleentwicklerin Julie. Eigentlich wollte sie sich von ihrem 16-Stunden-Job für eine Anstellung mit besseren Arbeitsbedingungen abwenden. Doch so weit kam es nicht. Innerhalb von zwei Wochen habe sie mehr als 40 Bewerbungen geschrieben und zwei Anrufe für ein Bewerbungsgespräch erhalten, erzählt die Chinesin BBC. Ein Angebot blieb allerdings aus. Da sie dem hohen Arbeitsdruck aber nicht mehr standhalten konnte, kündigte sie ins Blaue hinein.
Um eine Verschnaufpause von der Arbeit einzulegen, zieht Julie zurück zu den Eltern. Auf den Monatslohn von 2000 Yuan (circa 240 CHF) verzichte sie seither. Ihre Eltern würden derzeit für ihre täglichen Ausgaben aufkommen, im Gegenzug schmeisst die junge Frau den Haushalt.
Mit diesem Entschluss steht Julie nicht alleine da. Auch die 27-jährige Chen Dudu hängte ihren Job in der Immobilienbranche an den Nagel, weil sie sich ausgebrannt und unterbezahlt fühlte. «Nachdem ich die Miete bezahlt habe, ist kaum noch etwas von meinem Lohn übrig geblieben», sagt sie gegenüber BBC. Sie zog zurück zu ihren Eltern, wo sie sich wie eine Rentnerin gefühlt habe. Schliesslich machte sie sich selbstständig.
Berichten zufolge leiden immer mehr Jugendliche in China an einem Burnout. Hinsichtlich der notorisch schlechten Work-Life-Balance in China überrascht dies nicht. Offiziell gilt in China die 40-Stunden-Woche. De facto wird in vielen chinesischen Firmen aber nach dem 996-System gearbeitet – von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends, sechs Tage die Woche. Das entspricht einer Arbeitszeit von 72 Stunden pro Woche. Aus diesem Grund wird 996 von Kritikern als «moderne Sklaverei» bezeichnet.
Zu den Befürwortern der 996-Arbeitswoche zählt unter anderem Alibaba-Group-Gründer Jack Ma. «Ich persönlich finde 996 einen grossen Segen für karriereorientierte Leute.» Dieselbe Haltung teilt Xi. Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit hat der Generalsekretär der Kommunistischen Partei bereits mehrfach folgenden Appell ausgesprochen: «Esst Bitterkeit!»
Ohne Klage sollen die jungen Menschen Härte ertragen, um Belohnungen zu ernten, so Xi.
Von Belohnung will die Jugend nichts wissen. Zumindest nicht jene der «Lying-Flat»-Bewegung (Tang Ping). Das Schlagwort (inklusive Memes) findet man hauptsächlich auf chinesischen Social-Media-Plattformen. Die Bewegung lehnt den gesellschaftlichen Druck zur Überarbeitung ab und ruft zu einem «flachen» Lebensstil auf. Sprich: weniger verdienen (und weniger konsumieren), um sich mehr ausruhen zu können.
This clip shows an earlier protest, with several protesters lying flat (躺平).
— Sabina Knight 桑稟华 (@SabinaKnight1) July 10, 2022
Depositors are protesting against the collapse of village banks.
Zhengzhou, at the gate of the Banking and Insurance Regulatory Commission.https://t.co/mNq9Vt0oMe
Der Druck auf den Schultern der jungen Menschen dürfte in Anbetracht des demografischen Wandels aber nicht schwinden. Die OECD prognostiziert, dass bis 2035 über 20 Prozent der chinesischen Bevölkerung über 65 Jahre alt sein werden.
Chinas Antwort auf die ungewisse Zukunft heisst: beten. Einem Ticket-Portal zufolge ist die Nachfrage nach Eintrittskarten für Tempel um das Dreifache angestiegen, insbesondere bei jungen Menschen, wie ZDF berichtet. Dies sei ungewöhnlich für die laizistische Volksrepublik, wo die Menschen ihren Glauben nur der kommunistischen Partei Chinas schenken sollen.