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Ausgebrannt oder arbeitslos – China hat immer mehr «Bumerang-Kinder»

Ausgebrannt oder arbeitslos – China hat immer mehr «Bumerang-Kinder»

In China gibt es kaum Arbeitslosigkeit. Doch es gibt einen besorgniserregenden Unterschied bei den Altersgruppen: Bei jungen Menschen hat die Arbeitslosenquote ein Allzeithoch erreicht – trotz oder gerade wegen der guten Bildung.
19.07.2023, 06:4207.05.2024, 10:29
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Mehr Bildung und weniger Armut versprach Xi Jinping einst. Heute weiss man: Xi machte keine leeren Versprechungen. Chinas Jugend ist so gebildet wie noch nie und die extreme Armut ist stark zurückgegangen. Dennoch zweifeln immer mehr Chinesinnen und Chinesen an der Politik des Vaters der Anti-Armut-Kampagne. Dies zeigt die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die ein Schlaglicht auf die Schattenseiten des chinesischen «Wirtschaftswunders» wirft.

Arbeitslos und ausgebrannt

Mehr Bildung – dieses Versprechen hat Xi eingelöst. Chinas Jugend ist gemessen an den Abschlüssen so gebildet wie noch nie. Dennoch haben viele Hochschulabsolventinnen und -absolventen Mühe, eine angemessene Anstellung zu finden.

Jede fünfte Person zwischen 16 und 24 Jahren ist arbeitslos – und das sind nur die offiziellen Zahlen. Einen Rekordwert verzeichnen auch die Studienabgänge: Aufgrund der Pandemie seien viele Abschlussprüfungen verschoben worden. Millionen von Hochschulabsolventen drängten deshalb verzögert auf den Arbeitsmarkt. Und dies, während Chinas Wirtschaft stockt.

«Es gibt zu viele Absolventen. Und in der Informatikbranche läuft es schlecht. Ich bin also gleich doppelt betroffen», sagt der 24-jährige Softwareentwickler Shi Wei aus Hangzhou, der eine Anstellung als Webentwickler sucht, gegenüber SRF.

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Bachelor- und Masterabsolventen feiern ihren Abschluss an der Renmin-Universität in Peking, Juni 2023.Bild: EPA
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Im Jahr 2023 werden voraussichtlich 11,6 Millionen Menschen ihren Abschluss an Universitäten und Hochschulen in ganz China machen.Bild: EPA

Leben als «wandelnde Leiche»

Aufgrund der Arbeitsnot nehmen junge Berufstätige niedrige Entlöhnung sowie Überstunden in Kauf. Diese Erfahrung machte der 32-jährige Jack Zheng, der bei einem chinesischen Technologieriesen angestellt war. Jeden Tag habe er ausserhalb seiner Arbeitszeit rund 7000 Textnachrichten beantworten müssen, wie er gegenüber BBC erzählt. Diesen Arbeitsaufwand bezeichnet er als «unsichtbare Überstunden», die erwartet, aber nicht entschädigt werden. Den Job habe er aufgrund mangelnder Erholung aufgeben müssen. Der Stress habe bei ihm eine schlimme Hauterkrankung hervorgerufen.

«Ich lebte wie eine wandelnde Leiche.»
Julie

Ausgebrannt ist auch die 29-jährige Spieleentwicklerin Julie. Eigentlich wollte sie sich von ihrem 16-Stunden-Job für eine Anstellung mit besseren Arbeitsbedingungen abwenden. Doch so weit kam es nicht. Innerhalb von zwei Wochen habe sie mehr als 40 Bewerbungen geschrieben und zwei Anrufe für ein Bewerbungsgespräch erhalten, erzählt die Chinesin BBC. Ein Angebot blieb allerdings aus. Da sie dem hohen Arbeitsdruck aber nicht mehr standhalten konnte, kündigte sie ins Blaue hinein.

Druck, mehr Druck, noch mehr Druck
Leistungsdruck im Job kennt man nicht nur in China. Auch hierzulande leidet gemäss Job-Stress-Index 2018 von Gesundheitsförderung Schweiz rund ein Viertel der erwerbstätigen Personen unter Stress. Trotzdem wird kaum über das Thema Burnout gesprochen. Bist du davon betroffen und möchtest mit deiner Geschichte ein Tabu brechen? Dann melde dich unter chantal.staeubli@watson.ch.

Immer mehr Bumerang-Kinder

Um eine Verschnaufpause von der Arbeit einzulegen, zieht Julie zurück zu den Eltern. Auf den Monatslohn von 2000 Yuan (circa 240 CHF) verzichte sie seither. Ihre Eltern würden derzeit für ihre täglichen Ausgaben aufkommen, im Gegenzug schmeisst die junge Frau den Haushalt.

Mit diesem Entschluss steht Julie nicht alleine da. Auch die 27-jährige Chen Dudu hängte ihren Job in der Immobilienbranche an den Nagel, weil sie sich ausgebrannt und unterbezahlt fühlte. «Nachdem ich die Miete bezahlt habe, ist kaum noch etwas von meinem Lohn übrig geblieben», sagt sie gegenüber BBC. Sie zog zurück zu ihren Eltern, wo sie sich wie eine Rentnerin gefühlt habe. Schliesslich machte sie sich selbstständig.

«Auf Dauer wäre ich sonst wirklich zum Parasiten geworden.»
Chen

996-Arbeitswoche

Berichten zufolge leiden immer mehr Jugendliche in China an einem Burnout. Hinsichtlich der notorisch schlechten Work-Life-Balance in China überrascht dies nicht. Offiziell gilt in China die 40-Stunden-Woche. De facto wird in vielen chinesischen Firmen aber nach dem 996-System gearbeitet – von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends, sechs Tage die Woche. Das entspricht einer Arbeitszeit von 72 Stunden pro Woche. Aus diesem Grund wird 996 von Kritikern als «moderne Sklaverei» bezeichnet.

Zu den Befürwortern der 996-Arbeitswoche zählt unter anderem Alibaba-Group-Gründer Jack Ma. «Ich persönlich finde 996 einen grossen Segen für karriereorientierte Leute.» Dieselbe Haltung teilt Xi. Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit hat der Generalsekretär der Kommunistischen Partei bereits mehrfach folgenden Appell ausgesprochen: «Esst Bitterkeit!»

Ohne Klage sollen die jungen Menschen Härte ertragen, um Belohnungen zu ernten, so Xi.

Beten für eine bessere Zukunft

Von Belohnung will die Jugend nichts wissen. Zumindest nicht jene der «Lying-Flat»-Bewegung (Tang Ping). Das Schlagwort (inklusive Memes) findet man hauptsächlich auf chinesischen Social-Media-Plattformen. Die Bewegung lehnt den gesellschaftlichen Druck zur Überarbeitung ab und ruft zu einem «flachen» Lebensstil auf. Sprich: weniger verdienen (und weniger konsumieren), um sich mehr ausruhen zu können.

Der Begriff «Tang Ping» brachte zahlreiche Memes auf der Social-Media-Seite Sina Weibo hervor.
Der Begriff «Tang Ping» brachte zahlreiche Memes auf der Social-Media-Seite Sina Weibo hervor.

Der Druck auf den Schultern der jungen Menschen dürfte in Anbetracht des demografischen Wandels aber nicht schwinden. Die OECD prognostiziert, dass bis 2035 über 20 Prozent der chinesischen Bevölkerung über 65 Jahre alt sein werden.

epa08914018 A woman prays at Baotong Temple on the first day of the new year, in Wuhan, China, 01 January 2021. Life in Wuhan, a Chinese city of more than 11 million, which nearly a year ago became th ...
Eine Frau betet im Baotong-Tempel in Wuhan, China, Januar 2021.Bild: EPA

Chinas Antwort auf die ungewisse Zukunft heisst: beten. Einem Ticket-Portal zufolge ist die Nachfrage nach Eintrittskarten für Tempel um das Dreifache angestiegen, insbesondere bei jungen Menschen, wie ZDF berichtet. Dies sei ungewöhnlich für die laizistische Volksrepublik, wo die Menschen ihren Glauben nur der kommunistischen Partei Chinas schenken sollen.

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121 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Fairness
19.07.2023 06:47registriert Dezember 2018
Bei uns geht es vielen ähnlich. Wir sind zwar im ersten Rang bei nichtbvorhandener Sklaverei, aber woher denn die hohe Anzahl Burnouts, Suizide u.ä.? Auch bei uns beantworten unbezahlt viele tausende von Emails. Nach Feierabend, vordem Frühstück, in den Ferien. Nur weiss das keine Statistik.
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Walter Sahli
19.07.2023 06:55registriert März 2014
Gab's die kommunistischen Revolutionen nicht zuletzt auch wegen der Ausbeutung der Arbeitenden?
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wurzeli
19.07.2023 06:42registriert April 2020
Zu teure und falsche Qualifikationen für das, was auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt wird. Kommt mir bekannt vor.
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