Als Donald Trump im letzten November erneut zum US-Präsidenten gewählt wurde, war die Konsternation riesig. Wie konnte eine Mehrheit der Amerikaner einen «Rattenfänger» wählen, der ihnen ein «goldenes Zeitalter» in Aussicht stellte? Dabei ging es den USA gut. In kaum einem Industrieland verfügen die Menschen über ein höheres Einkommen.
Objektiv stimmt das. In der OECD-Liste der verfügbaren Haushaltseinkommen liegen die USA mit durchschnittlich mehr als 62’000 Dollar (Stand 2023) mit grossem Abstand an der Spitze, vor Luxemburg und der Schweiz. Eigentlich sind die Amerikaner ein wohlhabendes Volk. Die gestiegenen Benzin- und Eierpreise sollten kein Problem sein.
Statistiken sind jedoch trügerisch. Die USA sind nur auf dem Papier ein reiches Land. Viele Menschen spüren wenig davon. Gerade die Mittelschicht, die tragende Säule jeder Demokratie, ist unter Druck. Laut dem renommierten Pew Research Center sank der Anteil der Haushalte mit mittlerem Einkommen zwischen 1971 und 2023 von 61 auf 51 Prozent.
Gewachsen ist die Zahl der Haushalte mit tiefen, besonders aber jene mit hohen Einkommen, von 11 auf 19 Prozent. Die Ungleichheit hat zugenommen, und das hat nicht nur bei den Gütern des täglichen Bedarfs Folgen, sondern auch in der Freizeit. Immer mehr US-Unternehmen orientieren sich bei ihrem Angebot an den Vermögenden.
Auf der Strecke bleiben nicht nur die Armen, sondern auch der Mittelstand. Interessant ist die Jahreszahl 1971 in der Pew-Erhebung. Damals wurde Walt Disney World in Orlando (Florida) eröffnet, die grössere Ausgabe des originalen Disneyland im kalifornischen Anaheim. Die Parks sind ein integraler Bestandteil der amerikanischen Populärkultur.
Getreu dem Credo des legendären Gründervaters Walt Disney sollten sie eine Attraktion für alle sein, ungeachtet von Herkunft, Hautfarbe oder Einkommen. Eine Familie, die in einem neuen Cadillac vorfuhr, wurde in den Vergnügungsparks gleich behandelt «wie jene in einem gebrauchten Chevy». So steht es in einem Gastbeitrag in der «New York Times».
Verfasst wurde er von Daniel Currell, einem Unternehmensberater, der Disney World erstmals 1977 besucht hatte. Der Titel ist bezeichnend: «Disney und der Niedergang von Amerikas Mittelklasse». Denn die Zeiten sind längst vorbei, in denen vor «Übervater» Disney alle gleich waren. Heute gilt die Devise «Wer mehr zahlt, bekommt auch mehr».
Ferien bei Disney seien etwas «für die obersten 20 Prozent der amerikanischen Haushalte – und offen gesagt vielleicht für die Top 10 oder 5 Prozent», sagte Len Testa, Betreiber einer Website mit Tipps und Tricks für Besucher: «Disney präsentiert sich als Reiseziel für alle Amerikaner. Die Ironie ist, dass sich die meisten Amerikaner das nicht leisten können.»
Daniel Currell porträtierte in seinem Beitrag eine Familie, die es versucht hat. Es ist jene von Scarlett Cressel, einer 60-jährigen Schulbusfahrerin aus dem Bundesstaat Virginia. Zusammen mit ihrer Tochter, die an einer Schule unterrichtet, verdient sie fast 80’000 Dollar brutto pro Jahr. Das entspricht ziemlich genau dem Medianeinkommen in den USA.
Dafür sollte man sich einiges leisten können, möchte man meinen. Doch der Traum von Disney World wurde für die Cressels zu einer Art Spiessrutenlauf. Das begann mit der Buchung von Slots für die Top-Attraktionen im Magic Kingdom in der zugehörigen App. Als «normale» Ticketbesitzer befindet man sich am unteren Ende der Nahrungskette.
Je mehr zusätzliche Dinge man kauft, umso grösser sind die Chancen. Dazu gehören geführte Rundgänge oder ein Aufenthalt in einem parkeigenen Hotel. Dort sind die Preise gemäss Experte Len Testa deutlich höher als im übrigen Orlando. Die Metropole in Zentralflorida, in der sich weitere Parks wie die Universal Studios und Sea World befinden, rühmt sich der weltweit zweitgrössten Zahl an Hotelbetten nach Las Vegas.
Begonnen hatte es ganz anders. Bei der Eröffnung des Magic Kingdom 1971 betrug der Eintrittspreis lachhafte 3.50 Dollar. Für die Attraktionen musste man zusätzlich ein Couponheft kaufen, doch insgesamt kostete der Besuch kaum mehr als 10 Dollar. Ab den 1980er-Jahren wurden die Coupons von deutlich teureren Tagespässen abgelöst.
Doch auch das war relativ. Ich selbst besuchte Disney World auf meiner ersten grossen USA-Reise 1989 und erfüllte mir damit als ein mit Micky Maus, Lustigen Taschenbüchern und den legendären Disney-Trickfilmen sozialisierter Mensch einen Kindheitstraum. Damals kostete ein Tageseintritt 29 Dollar. Darin waren alle Attraktionen inbegriffen.
Ich leistete mir einen Viertagespass für knapp 100 Dollar, in dem neben dem Magic Kingdon das EPCOT Center und die damals brandneuen Disney MGM Studios (heute Hollywood Studios) enthalten waren. Am Ende wurden meine hohen Erwartungen erfüllt, ohne allzu grosses Loch in der Reisekasse. Disney World war eine Destination für (fast) alle.
Das aber war eine andere Zeit, ohne Handys und Internet. Ab den 1990er-Jahren begann sich dies zu ändern. Der charismatische Disney-CEO Michael Eisner führte immer mehr Angebote für Menschen mit dickem Portemonnaie ein. Vor einem privilegierten Zugang zu den Top-Attraktionen wie der Big Thunder Mountain Railroad schreckte er jedoch zurück.
Heute wird knallhart kalkuliert. Das beginnt mit den Eintrittspreisen. Ein Tageseintritt für Besucher über 10 Jahre kostet 119 Dollar, und das auch nur in der Nebensaison, etwa im Hochsommer, wenn es in Zentralflorida fast unerträglich heiss und feucht ist. Familie Cressel aus dem «New York Times»-Artikel reiste trotzdem Ende Juli, um Geld zu sparen.
Für ein Dreitages-Ticket blättert man mindestens 267 Dollar hin, und darin ist das Magic Kingdom als Herzstück nicht inbegriffen. Wer Warteschlangen überspringen will, sollte zusätzlich einen Lightning Lane Pass buchen. Damit hat man fünf reservierte Slots auf sicher, und der eigentliche «Goldstandard» ist der Lightning Lane Premier Pass.
Mit ihm kann man sich überall «vordrängeln», doch das hat seinen Preis. In der Hauptreisezeit, etwa im Advent, kostet dieser Pass fast 450 Dollar pro Person und Tag. Diesen Spass kann sich nur die obere Einkommensklasse leisten. Die «New York Times» zeigt dies anhand eines Kadermanns aus der Tech-Industrie in Kalifornien.
Er besuchte Disney World mit seiner 13-jährigen Tochter im Dezember, also in der Zeit mit hohem Besucheraufkommen, in der man vor beliebten Attraktionen im Magic Kingdom als «Normalbesucher» bis zu zwei Stunden anstehen muss. Dank Premier Pass konnten Vater und Tochter in nur sieben Stunden ganze 16 Attraktionen «abklappern».
Die mittelständische Familie Cressel blieb in der Nebensaison im Juli doppelt so lange im Park und brachte es trotzdem nur auf neun Attraktionen, plus Parade und Feuerwerk. Deutlicher lässt sich kaum illustrieren, wie weit die Gesellschaft in den USA auseinandergedriftet ist. Disney World ist dafür nur ein besonders prägnantes Beispiel.
Man könnte auch die beliebten Profisportarten erwähnen. Früher waren die Tickets für alle erschwinglich, heute ist das für Mittelschichts-Familien immer weniger der Fall. Die Zeiten, in denen alle gleich behandelt wurden, scheinen unwiederbringlich vorbei. «Heutzutage ist nicht Vereinigung profitabel, sondern Segmentierung», schreibt «New York Times»-Autor Currell.
Scarlett Cressel und ihre Familie kostete der siebentägige Aufenthalt in Orlando rund 8000 Dollar für zwei Erwachsene und drei Kinder. Das sind fast 15 Prozent des Jahreseinkommens nach Steuern. Trotzdem denkt die Schulbusfahrerin über eine Rückkehr nach, samt Aufenthalt in einem teuren Disney-Hotel, denn «jede Magie hat ihren Preis».
Man könnte dies als Ausdruck der optimistischen Mentalität der Amerikaner betrachten. Es ändert nichts daran, dass die USA generell ein teures Land geworden sind. Und die Mittelklasse selbst in der Freizeit zunehmend abgehängt wird. Donald Trumps Name wird im «New York Times»-Artikel nirgends erwähnt. Dennoch denkt man unweigerlich an ihn.
Für Trumps erneuten Erfolg gibt es einige Gründe. Der Vergleich von Disney World damals und heute ist einer davon. Und nichts deutet darauf hin, dass sich dies ändern wird.
Wo nicht?