Die Weltbevölkerung umfasst alle Menschen, die auf der Erde leben. Doch wie wird diese eigentlich erfasst? Vorrangig durch Volkszählungen in den knapp 200 Staaten der Erde, aber auch mithilfe von Satellitenbildern der Bebauung und der nächtlichen Beleuchtung. Die meisten Schätzungen zur aktuellen Weltbevölkerung orientieren sich an den Erkenntnissen der Vereinten Nationen und beziffern die Zahl der Menschen derzeit auf etwa 8,2 Milliarden.
Doch eine neue Studie legt nahe, dass ländliche Regionen dabei möglicherweise deutlich unterschätzt wurden. Forscher der Aalto-Universität in Finnland analysierten 307 Staudammprojekte in 35 Ländern zwischen 1975 und 2010 und fanden dabei erhebliche Diskrepanzen zwischen der Zahl der für diese Projekte umgesiedelten Menschen und derjenigen aus fünf gängigen, auf Volkszählungen basierenden Datensätzen der Weltbevölkerung (World-Pop, GWP, GRUMP, Landscan und GHS-POP).
Josias Láng-Ritter von der Aalto-Universität in Finnland und Hauptautor der in der Fachzeitschrift «Nature Communications» veröffentlichten Studie geht davon aus, dass die Schätzungen für ländliche Gebiete möglicherweise erheblich nach oben korrigiert werden müssen. «Wir waren überrascht, dass die tatsächliche Bevölkerung, die in ländlichen Gebieten lebt, viel höher ist als in den Bevölkerungsstatistiken angegeben», erklärte Láng-Ritter. Je nach Datensatz wurden ländliche Bevölkerungen demnach um 53 Prozent bis 84 Prozent unterschätzt.
«Das bedeutet, dass selbst im genauesten Datensatz die ländliche Bevölkerung um die Hälfte zu niedrig angegeben wurde», so Láng-Ritter weiter. Besonders grosse Unterschiede wurden in China, Brasilien, Australien, Polen und Kolumbien festgestellt.
Aktuellen Schätzungen der UNO zufolge leben aktuell rund 43 Prozent der globalen Bevölkerung von 8,2 Milliarden Menschen in ländlichen Gebieten. Durch die neuen Ergebnisse ist anzunehmen, dass die tatsächliche Weltbevölkerung um mehrere hundert Millionen Menschen grösser ist als bisher angenommen.
Warum ausgerechnet Daten aus Staudammprojekten zum Vergleich herangezogen wurden, erklärt Láng-Ritter folgendermassen: «Wenn Staudämme gebaut werden, werden grosse Gebiete überflutet und Menschen müssen umgesiedelt werden. Die umgesiedelte Bevölkerung wird normalerweise genau gezählt, weil die Unternehmen Entschädigungen an die Betroffenen zahlen.»
Im Gegensatz zu globalen Bevölkerungsdatensätzen bieten diese Daten umfassende, an Ort und Stelle erhobene Bevölkerungszahlen, die zudem «nicht durch Verwaltungsgrenzen verzerrt» seien. Diese Daten kombinierte das Team mit Informationen aus Satellitenbildern.
Ein Teil der beobachteten Diskrepanzen resultiert nach Ansicht der Forschenden wahrscheinlich daraus, dass viele Länder nicht über die Ressourcen für präzise Datenerhebungen verfügen. Die Schwierigkeiten, abgelegene ländliche Gebiete zu erreichen, begünstigen mögliche Ungenauigkeiten noch. Unzureichende Finanzierung und mangelnde technische Möglichkeiten behindern Volkszählungen ohnehin.
Allerdings sind nicht alle von den neuen Ergebnissen der Aalto University überzeugt. Stuart Gietel-Basten von der Hongkonger Universität für Wissenschaft und Technologie erklärte gegenüber dem New Scientist, dass der Grossteil der Daten des Teams aus China und anderen Ländern Asiens stammt und möglicherweise nicht global repräsentativ ist.
Während es plausibel erscheine, dass einige Hunderttausend oder gar einige Millionen Menschen nicht erfasst wurden, wäre eine Abweichung im Milliardenbereich ein Paradigmenwechsel in unserem Verständnis der globalen Bevölkerungsverteilung, so Gietel-Basten. Um die Hypothese von Láng-Ritter zu untermauern, wären daher weiterführende Untersuchungen und zusätzliche Datenquellen notwendig.
Zudem gibt es Probleme mit der Datenqualität, insbesondere mit Satellitenbildern, die vor 2010 aufgenommen wurden und die aufgrund mangelnder Auflösung zu Ungenauigkeiten beitragen können. Und natürlich ist es unzulässig, entwickelte Länder wie Deutschland, Finnland, Australien oder Schweden, in denen es ein gut funktionierendes Meldesystem gibt, aufgrund von ein oder zwei Datenpunkten (Stauseeprojekten) völlig neu zu bewerten.
Láng-Ritter erkennt diese Einschränkung an. Nur 22 der 307 untersuchten Regionen liegen in entwickelten Ländern, und alle diesbezüglichen Umsiedlungen wurden vor dem Jahr 2000 durchgeführt. Dennoch sei man zuversichtlich, eine repräsentative Stichprobe erarbeitet zu haben, da die untersuchten Länder so unterschiedlich seien, was auch für die jeweiligen ländlichen Gebiete gelte.
Unabhängig von dieser Debatte sind sich beide Seiten darin einig, dass verbesserte Methoden zur Datenerhebung vor allem in ländlichen Gebieten und mit innovativen Bevölkerungszählungstechniken gebraucht werden.
Denn die Diskussion um die Grösse der Weltbevölkerung ist keineswegs nur von akademischem Interesse. Falls sich herausstellen sollte, dass grosse Teile der ländlichen Bevölkerung tatsächlich nicht erfasst wurden, hätte dies tiefgreifende Auswirkungen auf Entwicklungsstrategien, Umweltpolitik und wirtschaftliche Planungen.
Bevölkerungsstatistiken dienen als Grundlage für politische Entscheidungen, Infrastrukturplanung und die Verteilung finanzieller Mittel. Falls ganze Gemeinschaften systematisch untererfasst werden, könnte dies deren Entwicklungschancen erheblich beeinträchtigen. (pre)
Da ich mir nicht vorstellen kann, dass Wissenschaftler nicht auch an so was denken, würde mich interessieren, wieso sie ausschliessen, dass das ein wichtiger Effekt sein kann.