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Wladimir Putin

Putin erlaubt Staatsmedien Kritik – dahinter steckt offenbar Kalkül

Putin erlaubt Staatsmedien ein wenig Kritik – dahinter steckt offenbar Kalkül

Kremlchef Putin soll Staatsmedien zumindest ein wenig Kritik erlauben. Nach einem Medienbericht soll die Stimmung damit aufgebessert werden.
08.10.2022, 06:3508.10.2022, 06:35
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Ein Artikel von
t-online

Aus Russland kommen in den vergangenen Tagen immer wieder Berichte von einer offenen Kritik an Putins Kriegsstrategie. In einem Land, in dem jede Infragestellung der von Moskau als «Spezialoperation» bezeichneten Invasion bestraft wird, scheint das ungewöhnlich. Manche Beobachter vermuten, dass sich Putin-Gegner in Stellung bringen und ausloten, wie weit sie gehen können. So hatte der Tschetschenen-Machthaber Ramsan Kadyrow offen den Rückzug russischer Truppen kritisiert.

epa10229378 Russian President Vladimir Putin attends an informal annual summit of the Commonwealth of Independent States (CIS) heads of state at the Konstantin Palace presidential residence in Strelna ...
Wladimir Putin: Kritik als Teil der Propaganda?Bild: keystone

Nach einem Bericht des US-Wirtschaftsdienstes Bloomberg könnte dahinter aber auch Kalkül von Wladimir Putin stecken. Nach Informationen des Dienstes hat der Kreml einige Staatsmedien angewiesen, Fehler bei der Kriegsführung in der Ukraine einzuräumen. Hintergrund sollen Bedenken sein, dass die dauerhaft nur Erfolge vermeldende Propaganda irgendwann Zweifel aufkommen lässt. «Mit wenig Aussicht, dass ihre Streitkräfte in der Lage sein werden, die Gegenoffensive der Ukraine bald zu verlangsamen, hoffen die Behörden, dass das Auftreten von weniger Propaganda dazu beitragen kann, die öffentliche Unterstützung zu stärken», heisst es in dem Artikel.

«Wir müssen aufhören zu lügen»,

Nach Bloomberg-Informationen sei es eine Anpassung der Kommunikationsstrategie gewesen, die mehr oder weniger kritische Berichte über das Militär hervorgebracht haben. Der Wirtschaftsdienst beruft sich dabei auf Quellen aus dem Kreml. So wurde zuletzt eine Lagebesprechung öffentlich gemacht, bei der Karten den Rückzug russischer Truppen zeigten. Selbst TV-Moderator Wladimir Solowjew, auch als «Putins Stimme» bezeichnet, sagte nach Angaben des «Focus» unlängst in seiner Sendung: «Im wirklichen Leben würde ich mir wünschen, dass wir morgen Kiew angreifen und einnehmen. Aber ich bin mir bewusst, dass die 300'000, die sich in der Teilmobilisierung befinden, dafür Zeit brauchen.»

Diese gänzlich anderen Töne sollen vom Kreml selbst erlaubt worden sein, so der Bloomberg-Bericht. «Wir müssen aufhören zu lügen», sagte Andrey Kartapolov, ein ehemaliger General, der jetzt den Verteidigungsausschuss im Unterhaus des Parlaments leitet, diese Woche in einer beliebten Online-Talkshow. «Unsere Leute sind nicht dumm.»

Ob Aussagen, die so weit gehen, vom Kreml genehmigt wurden, ist unklar. Die Entscheidung Putins, die Ukraine anzugreifen, wird an sich nicht infrage gestellt. Und schon gar nicht seine Machtposition. Dennoch mehren sich Berichte über militärische Misserfolge im Süden und Osten der Ukraine.

«Gestern haben wir 16 Siedlungen in der Region Cherson verloren. Was werden wir heute verlieren?», fragte Moderatorin Olga Skabeyeva in ihrer Prime-Time-Show einen Kommandanten. «Wir manövrieren mit Rückzugselementen», war alles, was er als Antwort murmeln konnte.

Bericht über Treffen mit Militärbloggern

Putin habe laut Bloomberg seit dem Frühsommer mindestens zwei Treffen unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit einer kleinen Gruppe russischer Militärkorrespondenten abgehalten. Eines habe kurz vor der plötzlichen Einberufung von 300'000 Reservisten stattgefunden, beruft sich Bloomberg auf die mit der Situation vertrauten Personen.

Dafür spricht, dass viele sogenannte Kriegs-Blogger, die allgemein als Putin-Unterstützer gelten, mittlerweile Details über Frontverläufe offen diskutieren. Die gefürchtete Wagner-Gruppe kündigte am 6. Oktober die Einrichtung ihres eigenen privaten Telegram-Kanals an. Das kann nach Einschätzung des US-Think-Tanks «Institut for the study of war» (ISW) bedeuten, dass der einflussreiche Wagner-Finanzier Jewgeni Prigoschin möglicherweise eine Stimme haben möchte, die eindeutig seine eigene ist. Damit könnte er in Konkurrenz zu Militärbloggern, aber auch zum tschetschenischen Kriegsherrn Ramsan Kadyrow zu konkurrieren, die alle ihr eigenen Telegram-Kanäle haben. Allerdings tauchten am Donnerstag Videos auf Twitter auf, die die Verhaftung von Alexei Slobodenyuk zeigen sollen – dem Mann hinter den Telegram-Kanälen.

Zuletzt hatten auf Telegram Militärblogger die Situation in Sajzewe anders eingeschätzt: Während das russische Verteidigungsministerium bereits volle Kontrolle meldete, widersprachen Blogger den Einschätzungen und sahen nur Teilerfolge, berichtet das ISW.

Der Kreml hat auf Anfragen von Bloomberg zu einer veränderten Kommunikationspolitik nicht reagiert. Auf die Frage, ob Kremlchef Putin über die offenen Diskurse wisse, antwortete Margarita Simonyan vom Staatsfernsehen: «Ich denke, es ist ihm bekannt und er versteht das sehr gut.» Werden sonst Kritiker umgehend verhaftet, ist von Repressalien gegen die Kriegsblogger und TV-Moderatoren bisher nichts bekannt.

Eine andere Möglichkeit steht natürlich auch offen: Da Putin gerne die Kontrolle hat, kann es sein, dass er die kritischen Äusserungen nachträglich zu seinem Erfolg machen will. So könne der Eindruck entstehen, dass er nach wie vor fest im Sattel sitze und lediglich einen Austausch an unterschiedlichen Auffassungen zulasse.

Verwendete Quellen:

((t-online,wan ))

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16 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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rodolofo
08.10.2022 07:05registriert Februar 2016
Soviel ich weiss, besteht ein wesentlicher Teil des Putin'schen Systems darin, dass sich seine Untergebenen gegenseitig spinnefeind sind und einander mit ihren Rivalitäten um Geld und Macht gegenseitig in Schach halten.
Solange also die Kritik an der "militärischen Spezialoperation" darin besteht, dass sich Fraktionen des Putin'schen Machtapparats gegenseitig zerfleischen, aber keiner von ihnen es wagt, denjenigen zu kritisieren, der den Befehl zum Einmarsch in die Ukraine gegeben hat, kann sich Putin genüsslich und mit seinem zur Genüge bekannten, dreckigen Paten-Grinsen die Hände reiben...
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Haarspalter
08.10.2022 07:56registriert Oktober 2020
„Kremlchef Putin soll Staatsmedien zumindest ein wenig Kritik erlauben.“

Das Ministerium für Öffentliche Kritik gibt dann den genauen Wortlaut dieser Kritik vor.

Jeder kritische Text endet zudem mit der Klausel
„Lang lebe unser weiser Präsident Putin!“

Mit dieser dramatischen Öffnung in Richtung Demokratie holt sich Putin den Friedensnobelpreis 2023 sicher gleich zweimal in Folge nach Russland.
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ands
08.10.2022 10:53registriert Februar 2016
Die Teilmobilisierung war für die russische Bevölkerung ein Schock. Wer sich nur über die Staatsmedien informiert hatte, wusste ja gar nicht, dass die Armee Probleme hat und zusätzliche Ressourcen benötigt. Es lief ja angeblich immer alles nach Plan.
Ich gehe davon aus, dass man das im Kreml realisiert hat und die Kommunikation entsprechend angepasst hat. Wenn das stimmt, sind die Berichte über Misserfolge und Rückschläge nichts weiter als die Vorbereitung der Bevölkerung auf die nächste Eskalationsstufe.
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