Immer wieder wurde in der Vergangenheit der Niedergang des Kinos prophezeit. Trotzdem sind die Lichtspielhäuser dieser Welt noch immer allgegenwärtig in unserer Kultur. Sie haben das Fernsehen überlebt, sich mit dem Internet arrangiert und bisher selbst dem Netflix-Siegeszug standgehalten.
Und doch stehen die weltweiten Kinosäle nun vor einem Massensterben. Mit der Coronapandemie hat die Kinogeschichte eine Wendung genommen, wie sie sich wohl nur eine Drehbuchautorin hätte ausdenken können.
Weltweit sind die Kinos seit bald neun Monaten immer wieder geschlossen. Sind sie einmal doch offen, bleiben sie leer. Während die Leute scheinbar ohne Sorge die Nähe im Restaurant oder beim Apéro riskieren, bleiben sie den Kinosälen fern. Das heimische Sofa ist nicht nur bequemer, sondern auch Corona-sicher.
Kommt hinzu, dass die Kinoprogramme seit Monaten sehr dürftig daherkommen. Die Studios schrecken davor zurück, ihre Filme in die Kinos zu bringen. Gleichzeitig landen immer mehr Filme auf Streaming-Plattformen von Netflix, Apple oder Amazon. Die Studios verkaufen ihre vermeintlichen Kinohits immer grosszügiger an Streaming-Dienste, um ihren Verlust zumindest etwas zu reduzieren. Selbst Filme mit Tom Hanks, in einer normalen Kinosaison eigentlich sichere Umsatzbringer, landeten zuletzt bei Apple und Netflix.
Wie gross die Not in Hollywood ist, zeigt die Tatsache, dass im November sogar das Gerücht die Runde machte, der neue «James Bond» würde als Stream Premiere feiern. Netflix und Apple hätten sich eine Bieterschlacht geliefert, die Rede war von Geboten jenseits der 500 Millionen Dollar. Auch wenn «Bond»-Verleiher Universal mittlerweile dementiert hat, sollen die Verantwortlichen ernsthaft darüber nachgedacht haben. Schlussendlich sei der Deal angeblich nur an den hohen Forderungen von Rechteinhaber MGM gescheitert.
Dass die Sorge um die Kinobranche berechtigt ist, zeigt ein Blick über die Landesgrenzen: AMC, die grösste Kinokette der Welt, machte bereits im ersten Quartal 2020, also zu Beginn der grossen Coronakrise, einen Verlust von über zwei Milliarden Dollar. Im Oktober warnte die Kinokette dann ihre Investoren davor, dass bis Ende 2020 das Geld ausgehen könnte, wenn keine neuen Blockbuster starten würden. Inzwischen ist dieser Fall eingetreten: Bis Ende 2020 startet mit «Wonder Woman 1984» gerade einmal ein Blockbuster in den Kinos – allerdings erst Ende Dezember.
Bei der Konkurrenz ist man bereits einen Schritt weiter gegangen. So hat Cineworld, die unter anderem Kinos in ganz Grossbritannien betreibt, angekündigt, einen Grossteil seiner Säle zumindest vorübergehend zu schliessen. Man erhoffe sich so, Kosten zu sparen. Am Überleben der Kinokette hängen über 5000 Jobs.
Auch für die Schweizer Kinobranche sieht es im Coronajahr miserabel aus. Selbst nach dem Lockdown blieben die Säle leer. Im Juli sei der Umsatz im Jahresvergleich um 70 bis 80 Prozent zurückgegangen, sagte Edna Epelbaum, Präsidentin des Schweizer Kinoverbandes, im watson-Interview. Das sei auch dem schönen Wetter geschuldet gewesen. Nach dem Lockdown wollten alle raus, statt in dunkle Kinosäle.
Mittlerweile schliessen auch hierzulande immer mehr Kinos. Zum einen wegen politischer Vorgaben, zum anderen aus finanziellen Sorgen. Im November schlossen sämtliche Kinos in der Westschweiz sowie im Kanton Bern. Auch die Kinobetreiberin Arthouse Commercio Movie AG aus Zürich hat Mitte November angekündigt, seine sechs Säle bis zum 4. Februar zu schliessen. Mittlerweile seien so viele Filme nach 2021 verschoben worden, dass man schlicht nicht mehr genügend Abwechslung bieten könne.
Auch die Begrenzung auf 50 Personen pro Saal macht den Kinos zu schaffen. Durchschnittlich würden noch zwölf Personen eine Vorstellung besuchen, so die Betreiberin.
Dass Warner nun angekündigt hat, alle seine Filme 2021 gleichzeitig als Stream zu veröffentlichen, ist ein harter Schlag für die Kinobranche. Das Pikante daran ist, dass die Filme auf HBO Max, dem eigenen Streaming-Dienst von Warner, starten werden. Damit kann man sich also mit einem Abo, das monatlich rund 15 Dollar kostet, die neusten Kinofilme anschauen. Im Falle von Warner bedeutet dies potenzielle Hits wie:
Was das für die Kinos heissen dürfte, ist klar: Wem eine grosse Leinwand und guter Sound nicht so wichtig ist, wird sich die Filme lieber zu Hause ansehen. Gleichzeitig werden gute Kopien der Filme viel schneller auf Filmsharing-Seiten landen, was man bei Warner wohl als vernachlässigbar ansieht.
Auch die Anleger sehen das so: Die Aktien von börsennotierten US-Kinoketten befinden sich aktuell im freien Fall. So tauchte die AMC-Aktie in nicht einmal zwei Stunden um knapp 16 Prozent. Inzwischen ruft AMC sogar dazu auf, seine Aktien zu kaufen, um zu helfen, die Liquidität sicherzustellen, bis die grossen Filme wieder ins Kino kommen. Das Unternehmen möchte mindestens 200 Millionen, im besten Fall 700 Millionen US-Dollar einnehmen, ansonsten droht der Konkurs.
Was nun folgen dürfte, ist ein ausgedehnter Streit zwischen Kinobetreibern und Warner. Bereits im Frühling, als Universal Pictures den Kinostart von «Trolls 2» grösstenteils absagte und dafür als kostenpflichtigen Stream veröffentlichte, drohten die Ketten mit einem Boykott und Klagen.
Inzwischen findet sich die US-Kinobranche aber in einer weitaus schlechteren Position wieder. Boykott-Drohungen sind vom Tisch, immerhin kann sie froh sein, wenn überhaupt noch neue Filme starten. Und die Filmstudios zu verklagen würde die schlechten Bilanzen der Kinobetreiber unnötig belasten.
Dennoch gibt sich Adam Aron, CEO von AMC in einer Stellungnahme kämpferisch:
Gut möglich, dass AMC durch vertragliche Bedingungen tatsächlich eine gewisse Macht ausüben kann. Bereits jetzt rechnen Expertinnen damit, dass Warner zumindest ein Stück weit auf die Kinos zugehen muss. Allerdings begründet Warner seinen Schritt auch mit einer plausiblen Begründung: Man wolle die fehlenden Kinokapazitäten, die 2021 auftreten werden, mit Streaming auffangen.
Anders ausgedrückt: Warner rechnet damit, dass 2021 einige Kinos permanent schliessen werden. Damit wird der Konkurrenzkampf um die verbliebenen Säle unter den Studios umso grösser, zumal 2021 durch Corona viel mehr Filme auf der Kino-Releaseliste stehen als geplant. Aus Sicht von Warner ist es verständlich, dass man da lieber auf das eigene Streaming-Pferd setzt.
Dass das Kinosterben dabei noch gefördert wird, dürfte dem Filmstudio herzlich egal sein. Streaming stellt sich auch für Filmstudios immer mehr als lukrativer Vertriebskanal heraus. Vor allem das «Modell Disney» scheint dabei ein lukrativer Weg zu sein: Ein Blockbuster wird auf der eigenen Streaming-Plattform für einen Aufpreis veröffentlicht. Damit spart man sich nicht nur die Vertriebskosten, sondern muss sich den Verkaufspreis nicht mit den Kinos teilen. Ein Film landet so theoretisch viel schneller in den schwarzen Zahlen als durch einen weltweiten Kinostart.
Disney hatte das im Herbst mit dem Realfilm-Remake von «Mulan» ausprobiert. Obwohl der Konzern keine Zahlen kommuniziert hat, scheint man mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Zumindest anhand der Download-Zahlen der App lässt sich der Abonnentenzuwachs erahnen: In den ersten drei Tagen, nach der Veröffentlichung von «Mulan», stiegen die Downloads der Disney-Plus-App um 68 Prozent, während die Aufenthaltszeit der Abonnenten um 193 Prozent anstieg.
Laut den Analaysten von 7Park Data haben sich alleine in den USA rund ein Viertel aller Disney-Plus-Abonnenten dazu entschieden, die 30 Dollar für «Mulan» zu bezahlen. Geht man davon aus, dass etwa die Hälfte der weltweit 60 Millionen Abonnentinnen aus den USA stammen (der Streaming-Dienst startete dort ein halbes Jahr früher als vielerorts), sind dies Einnahmen von 261 Millionen Dollar. Hinzu kommen noch die zusätzlichen Einnahmen durch neue Abos, die im Zuge des «Mulan»-Releases abgeschlossen wurden.
Wie lukrativ das sein kann, zeigt eine einfache Rechnung: Hat jemand extra das Abo wegen «Mulan» abgeschlossen und danach den Film für 30 Dollar gekauft, sind das 39 Dollar, die komplett an Disney gehen. Selbst wenn fünf Personen den Film über das gleiche Abo geschaut hätten, wären das noch 7,80 Dollar pro Person gewesen.
Hätten sich diese fünf Personen den Film 2019 in einem US-Kino angeschaut, hätten sie pro Person durchschnittlich 9,18 Dollar Eintritt bezahlt. Von diesem Betrag hätte Disney etwa die Hälfte erhalten. Damit hätte Disney an einer Person also nur 4,59 Dollar verdient. Natürlich ist das alles Theorie, aber es zeigt auf, wie lukrativ Streaming sein kann.
Wenig verwunderlich also, dass Disney rund einen Monat nach «Mulans» Veröffentlichung angekündigt hat, voll auf Streaming zu setzen. Dafür werde man die Konzernstruktur umbauen: Das TV- und Filmgeschäft wird mit der Streaming-Abteilung verschmolzen. In Zukunft sollen noch mehr Filme direkt auf Disney Plus Premiere feiern.
Damit entgehen der Kinobranche die wichtigsten Zugpferde, denn es sind die grossen Blockbuster, die Leute in den vergangenen Jahren in die Kinos gelockt haben. Für die Kinobetreiber stehen damit sehr grosse Veränderungen an. Die Kinobranche, wie sie bisher existiert hat, verschwindet, ob und in welcher Form sie überlebt, wird sich zeigen.
Zumindest im Falle von Warner ist die Schweizer Kinobranche (vermutlich) noch nicht betroffen. HBO Max ist hierzulande nicht verfügbar und Warner Schweiz hat bisher noch keine Ankündigung gemacht, dass «Dune» und Co. auch hierzulande gleichzeitig im Kino und online starten werden.
Das wird mir fehlen, wie auch kleine Konzerte, kleine Kulturclubs und die ganze Subkultur.