Am 4. September 2018 erhebt sich Helene Fischer in Berlin aus der politischen Lethargie. Aus der Bekenntnislosigkeit. Am Abend zuvor haben in Chemnitz Die Toten Hosen, Marteria, K.I.Z und andere das Konzert «Wir sind mehr» abgehalten. In den Tagen zuvor hatten Rechtsextreme zur allgemeinen Jagd auf Migranten aufgerufen, nachdem ein Deutscher von zwei Männern mit Migrationshintergrund erstochen worden war. Mitglieder von PEGIDA und AfD veröffentlichten die Personalien der mutmasslichen Täter. 10'000 Rechtsextreme gingen auf die Strasse, es kam zu schweren antisemitischen und ausländerfeindlichen Ausschreitungen, Hitlergrüsse geisterten durch die Strassen von Chemnitz.
Das Konzert war eine Gegenmassnahme. Und die anwesenden Musiker beschwerten sich lautstark, dass «ein im Mainstream navigierendes Unterhaltungsschlachtschiff wie Helene Fischer» es noch nie für nötig gehalten habe, sich mit einer widerspenstigen politischen Idee zu solidarisieren.
Oder wie Toten-Hosen-Frontmann Campino im Jahr zuvor gesagt hatte: «Helene Fischer zum Beispiel äussert sich zu solchen Dingen nicht. Das ist ihr gutes Recht und ich will das auch gar nicht bewerten. Aber was wäre, wenn sie sagen würde: ‹Ich bin gegen die AfD und gegen die rechtsextreme Stimmung›? Sie würde unglaublichen Hass auf sich ziehen. Die Tatsache ist doch, dass man eher bereit sein muss, bei den Fans Verluste hinzunehmen, wenn man sich politisch positioniert.»
Bis dahin ist Helene Fischers Antwort auf jede Problemlage der Welt: «Liebe!» Und nichts weiter. Doch am 4. September 2018 ist ihr all dies egal, bereits am Morgen schreibt sie auf den sozialen Medien: «Wir können und dürfen nicht ausblenden, was zur Zeit in unserem Land passiert», schon da schimpfen viele sie eine regimetreue Marionette. Am Abend, in der Berliner Mercedes-Benz-Arena, steht sie auf, ruft: «Erhebt euch. Erhebt gemeinsam mit mir die Stimme. Gegen Gewalt. Gegen Fremdenfeindlichkeit. Und lasst uns gemeinsam dieses Lied singen. Wir brechen das Schweigen hier in Berlin. Seid ihr mit mir?»
Und gemeinsam mit einem grossen Teil ihrer 17'000 Zuschauerinnen und Zuschauer singt sie den Song: «Wir brechen das Schweigen!» Der Song ist ihr Beitrag zur deutschen Lichterketten-Protestkultur. Und ihre Aktion ist die Gelegenheit zu einer gewichtigen und im ersten Moment riskant scheinenden Image-Korrektur. Weg vom Heino-Schlagerland.
Helene Fischer ist mächtig. Obwohl sie als deutschsprachige Sängerin einen äusserst übersichtlichen Markt bedient, ist sie 2018 die Nummer acht der bestverdienenden Popstars der Welt. Vor ihr sind Katy Perry, Taylor Swift, Beyoncé, Pink, Lady Gaga, Jennifer Lopez und Rihanna. Hinter ihr Céline Dion und Britney Spears. Sie ist eine Titanin. Und die Titanin spricht zum ersten Mal Klartext. Das ist wichtig: Wer die Massen erreicht, trägt auch massenhaft Verantwortung.
Seit da ist sie eine Zielscheibe der Rechtsextremen. Wird bespitzelt – unter anderem von einem Polizeicomputer aus. Wird bedroht, einer rät ihr, nie mehr deutsche Lieder zu singen, sonst werde es viele Tote geben. Sie ruft an ihren Konzerten zu Toleranz und Inklusion und Engagement für die Demokratie auf. Der Hass, der Helene Fischer jetzt, wenige Tage nach der «Stern»-Aktion «Nicht mit uns!» gegen den erstarkenden Rechtsextremismus in Deutschland entgegenschlägt, ist für sie nichts Neues.
Im vergangenen Jahr besuchten 750'000 Menschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz ihre Tour, über fünf Millionen schauten am 25. Dezember 2023 ihre Weihnachtsshow im ZDF. Auch heute ist keine Europäerin grösser als sie. Sie ist in Sachen Erfolg das europäische Pendant zu Taylor Swift.
Auch diese hatte ihr politisches Erwachen 2018, da unterstützte sie die «March for Our Lives»-Bewegung, die einen kontrollierten Umgang mit Schusswaffen forderte. Der Rest ist Geschichte: Heute ist Swift 34 und die einflussreichste Feindin von Donald Trump. Heute ist Helene Fischer 39 und die Galionsfigur des Protests deutscher Promis gegen den Rechtsextremismus und die AfD, unter ihnen Udo Lindenberg, Bully Herbig, Maite Kelly oder Florian Silbereisen.
Taylor Swifts wirkungsvollster Schachzug war bisher, die Menschen zum Wählen aufzurufen. Ein Insta-Post von ihr führte 2022 an einem einzigen Tag zu 35'000 Neuwählerinnen. Auch Helene Fischer setzt jetzt im «Stern» auf die Wahl-Karte: «Wir müssen unsere Werte und unsere Demokratie jetzt verteidigen und dürfen das Feld nicht den Antidemokraten überlassen. Bei den kommenden Wahlen, in Deutschland und in Europa, wird entschieden, in welchem Land wir zukünftig leben werden. Tut das Richtige, geht zur Wahl!»
Selbst Roland Kaiser, ein Mann, der «woke» tendenziell für eine falsche Schreibweise von «Wok» hält, wird deutlich: «Es macht mich traurig, wütend und sprachlos, dass in der heutigen Zeit Menschen immer noch die gleichen Widerlichkeiten begehen wie die Generation meiner Eltern.»
Und der TV-Koch Nelson Müller schreibt: «Die 90er-Jahre habe ich als dunkelhäutiger Teenager als ein Jahrzehnt erlebt, in dem wir als Gesellschaft auf Vereinigung und Zusammenhalt aus waren, die Mauer war ja eben erst gefallen. ‹Wind of Change›, kaum verhallt, die Parade, die sich durch Berlin tanzte, trug den Namen ‹Love›. Mir will absolut nicht in den Kopf gehen, warum sich heute, obwohl wir 30 Jahre weiter sind, alles so unheilvoll und nach Rückschritt anfühlt.»
Dass sich Helene Fischer – wie Taylor Swift – in den letzten Jahren trotz massiver Einschüchterungen von ganz rechts nicht mehr von ihrem Engagement hat abbringen lassen, sondern im Gegenteil immer deutlicher wurde, ist ihr hoch anzurechnen. Denn logisch verdankt sie ihren Karrierestart – wie Swift – einer konservativen Fanbase. Und natürlich fanden sich da auch etliche extrakonservative Fans. Man erinnert sich an die Fantasien rechtsextremer Amerikaner, sich mit der «arischen» Country-Swift fortzupflanzen und daran, wie sie sich allzu lange nicht dazu geäussert hatte. Und als Schlagersängerin war Helene Fischer wohl an so manchem Parteifest der AfD zugegen. Nicht physisch, aber musikalisch.
Donald Trump bezeichnete einst die Wahlen von 2020 als «rigged», als manipuliert, heute sind sich seine Fans sicher, dass die laufende Spielzeit der National Football League «rigged» sei, in der Taylor Swifts Boyfriend Travis Kelce eine wichtige Rolle spielt. Und Helene Fischer wird wieder in den wüstesten Tönen beschimpft. Oder immer noch.
Campino hatte übrigens nicht recht: Weder Taylor Swift noch Helene Fischer haben mit ihren politischen Positionierungen Fans verloren. Im Gegenteil. Und auch wenn Image-Pflege in beiden Fällen mit ein ausschlaggebender Grund gewesen sein mag: Die Politik sollte sich am Kampf der beiden Pop-Ikonen gegen den Populismus ein Beispiel nehmen. Klarheit schafft Glaubwürdigkeit, Vertrauen – und Fans. Also Wählerinnen und Wähler. Kuschen und kuscheln bringt nichts. Im Grunde wäre es ganz einfach.