Ein volles Jahrhundert (!) ist es her, seit «Nosferatu – eine Symphonie des Grauens» erstmals öffentlich gezeigt wurde. Während dieser Stummfilm nach heutigen Massstäben vielleicht nicht so arg furchteinflössend ist wie für das Publikum von 1922, bleibt er aufgrund seiner düsteren expressionistischen Ästhetik einer der ikonischsten Streifen der Filmgeschichte und hat sich in das kollektive Gedächtnis von Filmfans weltweit eingenistet.
Grund genug, ein paar spannende Fakten zu diesem Meisterwerk Revue passieren zu lassen!
Filmproduzent Albin Grau behauptete stets, die Idee für «Nosferatu» sei während seines Militärdienstes im Ersten Weltkrieg entstanden, als er einen serbischen Bauern kennenlernte, der behauptete, Sohn eines Vampirs zu sein. Doch es war zweifelsohne Bram Stokers Roman «Dracula» (1897), der für das Drehbuch Pate stand. Aus welchen Gründen auch immer war Graus Filmproduktionsgesellschaft Prana-Film nicht willens oder in der Lage, sich die erforderlichen Rechte für die Verfilmung zu sichern. Etwas naiv glaubte man, dass ein Rechtsstreit vermieden werden konnte, indem man die Handlung von «Dracula» an ein paar wichtigen Stellen abänderte: Der Schauplatz wurde vom viktorianischen London ins Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts verlegt. Aus der englischen Hafenstadt Whitby wurde die fiktive deutsche Stadt Wisborg. Aus Jonathan Harker wurde Thomas Hutter. Graf Dracula wurde zu Graf Orlok. Der Filmtitel indes wurde von einem Begriff inspiriert, der zweimal im Roman vorkommt: Stoker dachte fälschlicherweise, «Nosferatu» bedeute «Vampir» auf Rumänisch.
Kurz nach der Premiere von «Nosferatu» in Berlin 1922 erhielt Florence Stoker – die Witwe des Romanautors – ein anonymes Paket mit einem der Werbeplakate des Films, auf dem mit den Worten «Frei nach Bram Stoker's ‹Dracula›» geworben wurde. Florence wandte sich an die Schriftstellergewerkschaft British Incorporated Society of Authors, die einen deutschen Anwalt damit beauftragte, gegen Prana-Film vorzugehen. Zunächst war geplant, die Firma wegen Urheberrechtsverletzung zu verklagen. Doch eine Reihe schlechter Geschäftsentscheidungen Graus (nicht zuletzt die rücksichtslos teure Marketingkampagne für den Film; siehe unten) hatte das Studio bereits kurze Zeit nach Veröffentlichung in den Ruin getrieben. Somit wurde evident, dass an «Nosferatu» kein Geld zu verdienen war, weshalb man juristisch darauf abzielte, alle Kopien des Films vernichten zu lassen. Im Jahr 1925 gab ein deutsches Gericht der Klägerin recht und ordnete an, dass alle Kopien in Deutschland verbrannt werden sollten. Doch im Laufe der Jahre gelangten überlebende Kopien in die USA, nach Frankreich und nach Grossbritannien, wo sie mitunter auch öffentlich vorgeführt wurden.
Der Roman «Dracula», obwohl gut rezensiert, machte den Autor nie zu einem wohlhabenden Mann. Obwohl sich das Buch in den nächsten drei Jahrzehnten nach seiner Veröffentlichung rund 30'000 Mal pro Jahr verkaufte, ging der grösste Teil des Gewinns direkt an Stokers Verleger. Die langjährigen Schulden und der schlechte Gesundheitszustand des Schriftstellers brachten ihn bis zu seinem Tod im Jahr 1912 in finanzielle Schwierigkeiten. Florence Stoker bemühte sich in der Folge deshalb um einen angemessenen Deal für die Filmrechte. Dies dauerte einige Zeit – erst 1931 erschien mit Regisseur Tod Brownings «Dracula» aus dem Hause der Universal Studios und mit Bela Lugosi in der Hauptrolle die erste offizielle Filmadaption.
Knapp ein Jahr vor «Nosferatu» erschien der in Ungarn gedrehte und von Karoly Latjay inszenierte Film «Drakula halála» («Draculas Tod») mit dem Österreicher Paul Askonas in der Titelrolle. Er war, milde ausgedrückt, eine sehr lose Adaption und erzählte die Geschichte einer jungen Frau, die einen schrecklichen Albtraum erlebt, nachdem sie dem gleichnamigen Bösewicht begegnet ist. Seltsamerweise ist Dracula in dieser Version ein verrückter Musiker und kein exzentrischer Aristokrat. Von dem Stummfilm sind heute keine Kopien mehr erhalten, denn, anders als bei Nosferatu, war Florence Stokers Gerichtsklage hier erfolgreich. Gäbe es nicht einige wiedergefundene Werbefotos und Zeitungsberichte, wüssten Filmhistoriker vielleicht nicht, dass er jemals existiert hat.
Für die Regie von «Nosferatu» wählte Prana-Film F.W. Murnau, einen für seinen expressionistischen Stil bekannten Filmemacher. Ihm zur Seite stand Albin Grau, der als künstlerischer Produzent und Designer des Films fungierte. In dieser Funktion entwarf Grau alles, von den Kulissen über die Kostüme bis hin zu Orloks Make-up. Sein Leitmotiv war dabei «Der Golem», eine klassische Horrorgeschichte von Gustav Meyrink, basierend auf der jüdischen Fabelgeschichte. Ursprünglich 1914 als Fortsetzungsroman veröffentlicht, wurde die Geschichte im folgenden Jahr in Romanform herausgegeben. Diese zweite Auflage enthielt 18 von Hugo Steiner-Prag geschaffene Illustrationen, die offenbar einen grossen Einfluss auf Graus Konzeptkunst und die Storyboards für «Nosferatu» hatten.
Gestatten, Max Schreck:
Sohn von Gustav Ferdinand Schreck und Auguste Wilhelmine Pauline Schreck aus Berlin und somit, nein: Das ist kein Künstlername.
Über das Leben des Theater- und Filmschauspielers ist erstaunlich wenig bekannt. Laut seinem Biografen Stefan Eickhoff galt Max Schreck bei seinen Kollegen als «loyal und gewissenhaft» und als «Einzelgänger mit schrägem Humor und dem Talent, das Groteske zu spielen». Obwohl Schreck in über 40 Filmen mitspielte, ist heute vor allem seine ikonische Darstellung des Grafen Orlok in «Nosferatu» bekannt. Dabei soll Schreck während der gesamten Dreharbeiten in seiner Rolle geblieben sein und blieb beim restlichen Ensemble auf Distanz.
In einer Szene schliesst sich Orloks Sarg von selbst, nachdem sich der Deckel vom Boden gelöst hat. Dies war durch eine frühe Form der Stop-Motion-Animation möglich. Indem Murnau eine schnelle Abfolge von Standbildern zeigte, in denen sich der Deckel immer näher an seine endgültige Ruhestätte bewegte, konnte er dem Zuschauer vorgaukeln, dass das leblose Objekt aus eigener Kraft herumfliegt. Dieselbe Technik wurde auch in der Szene verwendet, in der Orlok seine Magie einsetzt, um die Luke eines Schiffes zu öffnen.
Das Konzept, dass Vampire in Flammen aufgehen, wenn sie direktem Sonnenlicht ausgesetzt sind, geht auf diesen Film zurück. Im Roman läuft Graf Dracula am helllichten Tag im Freien herum. Dem Buch zufolge können Sonnenstrahlen einen Vampir leicht schwächen, aber Stoker deutet nie an, dass sie ihn töten könnten. Um einen visuell überzeugenden Höhepunkt zu erreichen, beschlossen Grau und Drehbuchautor Henrik Galeen jedoch, das Sonnenlicht für den armen Grafen Orlok tödlich zu machen, der in einer Rauchwolke verschwindet, wenn er in einen gut beleuchteten Raum gelockt wird. Damit war ein Ur-Klischee des Horrorfilm-Genres geboren.
Am Ende gab Prana-Film mehr Geld für die Werbung aus als für die FIlmproduktion selbst. Grau startete eine ehrgeizige Marketingkampagne, die Zeitungsanzeigen, expressionistische Plakate und eine unaufhaltbare Flut von Presseberichten umfasste. Nach monatelangem Hype wurde der Film am 4. März 1922 im schicken Marmorsaal des Berliner Zoologischen Gartens uraufgeführt. Der Vorführung selbst ging eine kurze Bühnenshow voraus, die aus einem von einem Redner vorgetragenen Prolog und einer grossen Tanznummer bestand. Nach dem Ende von Murnaus Film fand ein pompöser Kostümball statt, wobei das Erscheinen der Gäste in Biedermeierkostümen erwünscht war. Viele der Reporter, die der «Nosferatu»-Premiere beiwohnten, schrieben später ausführlicher über diese grosse, rauschende Party als über den Film selbst.
Bereits einen Monat nach der Premiere kamen Gerüchte auf, die Prana-Film habe sich finanziell übernommen. Als Gründe wurden die exorbitanten Werbeausgaben, zu denen die rauschende Premieren-Party zählte, genannt, sowie das verschwenderische Ausgabeverhalten des Produzententeams Enrico Dieckmann und Albin Grau. Hinzu kam, dass der Marktführer UFA sich weigerte, den Film in das Programm seiner grossen Lichtspielhäuser aufzunehmen, und so lief «Nosferatu» nur in wenigen kleineren, unabhängigen Kinos. Im August 1922 wurde das Konkursverfahren gegen die Prana eröffnet und der Film wurde gepfändet.
Der Film wurde in Schweden wegen «übertriebenen Horrors» verboten. Dieses Verbot wurde erst 1972 aufgehoben. Im heimischen Deutschland war der Film im Fernsehen erstmals am 23. Juni 1969 in der ARD zu sehen.
Schräge Gags und zusammenhanglose Witze sind in der Kultserie «SpongeBob SquarePants» gewiss keine Seltenheit. Doch Graf Orloks Cameo in der Folge «Graveyard Shift» aus Staffel 2 ist besonders bizarr.
Der Regisseur und Schauspieler Werner Herzog bezeichnet «Nosferatu» als «den grössten deutschen Film aller Zeiten». 1979 führte Herzog beim Remake «Nosferatu – Phantom der Nacht» Regie. Bei diesem Film handelt es sich erklärtermassen um eine Hommage an den 1922er-Film. Allerdings verwendete Herzog die Namen aus Bram Stokers Roman. Klaus Kinski spielt den Grafen Dracula, der schweizerische spätere Hitler-Darsteller Bruno Ganz spielt Jonathan Harker, die französische Schauspielerin Isabelle Adjani dessen Ehefrau Mina Harker.
Eine weitere Hommage an den Ur-Film ist «Shadow of the Vampire» aus dem Jahr 2000. Dies ist eine fiktionale Darstellung der Ereignisse rund um die Produktion des Films, die auf der unterhaltsamen urbanen Legende von 1922 beruht, dass der Hauptdarsteller Max Schreck auch im echten Leben ein Vampir war. Schreck wird in diesem Film von Willem Dafoe gespielt; John Malkovich spielt «Nosferatu»-Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau, Udo Kier spielt den Produzenten Albin Grau.