Langweilige Songs, purer Nationalismus, grössenwahnsinnige Inszenierungen und eine Armada von Konfettibomben – willkommen beim Eurovision Song Contest! Das interkontinentale (hallo Australien) «Musik»-Spektakel zieht seit 1956 jährlich ein Millionenpublikum vor den Fernsehapparat. Und bei weiteren Millionen von Menschen sorgt es für ein grosses Fragezeichen. «Wer will sich das ansehen?», «Wieso all die Schwulen?», «Wieso gibt man dafür so viel Geld aus?»
Ursusla Hemetek, Ethnomusikologin an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien gehörte lange Zeit zu letzterer der obengenannten Kategorien; zu den ESC-Verpönern. Mittlerweile hat sie aber Gefallen am Song Contest gefunden. Und zwar aus wissenschaftlicher Sichtweise.
Wieso soll man den Eurovision Song Contest überhaupt ernst nehmen?
Ursula Hemetek: Der ESC erreicht jährlich an die 200 Millionen Menschen. Die verschiedensten Länder mit den verschiedensten kulturellen und politischen Hintergründen treffen sich. Sie alle benutzen dasselbe Medium, um sich vor ihren Nachbarn und schliesslich der Welt zu inszenieren. Diese Dynamik an sich ist schon mal sehr spannend.
Und wie sieht es mit der Musik aus?
Darüber lässt sich bestimmt streiten. Aber Fakt ist: Technisch gesehen sind die Songs perfekt produziert: Sie sind leicht zu konsumieren und handeln Themen ab, mit denen jeder etwas anfangen kann.
Der Song Contest wurde zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet, um Europa über Musik zusammenzubringen. Und das ausgerechnet über einen Konkurrenzwettbewerb.
Ich glaube, dass der ESC gerade wegen seiner Form als Wettbewerb so gut funktioniert. Der Mainstream liebt es, wenn Menschen gegeneinander antreten. Wenn diese Menschen dann noch Länder repräsentieren, kann sich jeder, der ein Fünkchen Patriotismus in sich trägt, mit einem solchen «Kräftemessen» identifizieren. Der ESC ist sowas wie die Olympischen Spiele für Leute, die sich nicht für Sport interessieren. Und schliesslich bekämpfen sich die Länder ja nicht, sondern sie singen gegeneinander. Das ist doch schon deutlich friedlicher als ein Krieg.
Beisst sich dieser Nationalismus nicht mit dem Bild des sich die Hände reichenden Europas?
Doch, auf jeden Fall. Aber er ist auch eine Chance, nationale Identitäten sichtbar zu machen. Von Völkern, die keinen souveränen Staat haben. So zum Beispiel die Sami, deren traditionelles Territorium sich über Teile Finnlands, Norwegens und Schwedens erstreckt. Die samische Folklore wurden schon in mehreren Auftritten von Schweden und Norwegen am ESC repräsentiert. Ein anderes Beispiel sind auch ältere Beiträge von Österreich. Nach dem Zweiten Weltkrieg versucht sich dieses Land am ESC neu zu präsentieren. Fern von seiner Nazi-Vergangenheit.
Und dann sind da ja auch noch die sexuellen Vielfalten.
Genau. Ganz prominent steht dafür der Sieg Conchita Wursts im Jahre 2014. Er ist sozusagen der Höhepunkt einer bewusstseinssteigernden Politik, die bereits seit Jahrzehnten ihren Platz auf der ESC-Bühne findet. Schon zu Zeiten, als das Thema Homosexualität in ganz Europa noch totgeschwiegen wurde, hat der Luxemburger Jean-Claude Pascal mit seiner Nummer «Nous les amoureux» implizit die gleichgeschlechtliche Liebe besungen. Das war 1961.
Denken Sie, solche politische Statements kommen in der «wirklichen Welt» auch zum Tragen?
Auf jeden Fall. Conchita Wurst hat vor zwei Jahren eine grosse Debatte in Österreich ausgelöst. Klar, die Inszenierung, dass wir hier im Westen (die wir der bärtigen Dragqueen alle 12 Punkte zuschoben) so offen sind und die im Osten so garstig und verschlossen, ist Schwachsinn. Und trotzdem hatte es eben doch eine Wirkung. Es war ein kleines Statement jeden Landes, das sich für den Sieg von Conchita ausgesprochen hat. Und gleichzeitig ein televisioneller Hoffnungsschimmer für queere Zuschauer aus Ländern, in denen man sich verstecken muss, wenn man anders ist.
Auf der Bühne prallen Mentalitäten aufeinander. Das kann auch ungesund sein.
Der ESC ist keine Tagespolitik. Da geht es nicht um Gesetzesbeschlüsse oder Staatsverträge. Und trotzdem ist er politisch – gesellschaftspolitisch. Auf der Bühne inszeniert man eine Rolle, man spielt mit Klischees und Vergangenheiten. Es werden Themen angeschnitten, die im Sitzungszimmer nicht besprochen werden. Und obwohl die meisten Auftritte mittlerweile stark an eine globale Ästhetik anknüpfen, die nicht mehr viel mit den kulturellen Hintergründen ihres Landes zu tun haben, verwenden viele Staaten den ESC noch immer als Werkzeug, um ihren Platz und ihr Profil in Europa zu definieren.
Schieben sich deshalb jüngere Staaten, etwa aus dem Balkan oder dem Kaukasus, jeweils gegenseitig die Höchstpunktzahl zu?
In der Tat ist die Punkteverteilung ein spannendes Politikum. Gerade wenn die von ihnen angesprochenen Länder am Zuge sind, aber auch bei viel etablierteren Staaten. Der Punktespiegel des ESC ist quasi ein politische Stimmungsbild. Es geht dabei nicht um irgendwelche transnationalen Bündnisse, sondern um die Atmosphäre und die kulturellen Beziehungen zwischen den verschiedenen Ländern. Die 12 Punkte, die Deutschland im Jahre 2013 der Türkei vergab, machen beispielsweise die grosse türkische Expat-Community sichtbar. Ein anderes Beispiel sind die Länder des ehemaligen Jugoslawiens, die selbst währenddem sie miteinander Krieg führten, ganz loyal Punkte untereinander austauschten.